Altmark/Gladbeck/Herne. [sn] – Tausende chronisch kranke Menschen in Deutschland stehen vor einem möglichen Rückschritt in ihrer Versorgung: Geht es nach Plänen von Teilen der Bundesregierung, soll Medizinalcannabis künftig nur noch nach persönlicher ärztlicher Vorstellung verordnet und nicht mehr per Apothekenversand geliefert werden. Für Betroffene bedeutet das nicht nur mehr Aufwand, sondern für viele schlicht das Ende ihrer Therapie – mit drastischen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen.
Ein Rückschritt für Patientenrechte und Versorgungssicherheit
Seit 2017 dürfen Ärzte in Deutschland schwer kranken Patienten Medizinalcannabis auf Rezept verordnen – eine Entscheidung, die vielen Menschen Linderung verschafft hat, wo herkömmliche Mittel versagten. Ob bei Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, Epilepsie oder ADHS: Für viele ist Cannabis ein bewährtes Medikament mit hoher Verträglichkeit. Doch nun steht dieser Fortschritt auf der Kippe.
Die aktuelle Diskussion entzündet sich an neuen gesetzlichen Vorgaben, nach denen Cannabisverordnungen künftig nur noch nach einem persönlichen Arztbesuch möglich sein sollen. Gleichzeitig könnte der Versand aus Apotheken untersagt werden. Diese Regelungen würden Medizinalcannabis in eine Sonderrolle drängen – und damit besonders jene treffen, die ohnehin am stärksten belastet sind: mobilitätseingeschränkte Patienten, Menschen auf dem Land, Pflegebedürftige und chronisch Erkrankte.
„Ich leide seit Jahrzehnten an Polyarthritis und ADHS. Die Schulmedizin hat meinen Magen ruiniert, Cannabis hingegen bringt mir Lebensqualität zurück“, berichtet ein Betroffener aus Brandenburg. Seine Erfahrung ist kein Einzelfall – zahlreiche Kommentare auf der Plattform DoktorABC.com belegen, wie sehr Patienten auf das Mittel angewiesen sind.
Gesetzespläne verkennen die Realität im Gesundheitswesen
Die Kritiker der geplanten Änderungen werfen der Politik vor, die Versorgungswirklichkeit zu ignorieren. Hausarzttermine sind in vielen Regionen Deutschlands Mangelware. Facharzttermine – etwa in der Schmerztherapie oder Neurologie – lassen oft Monate auf sich warten. Wer heute auf Cannabis eingestellt ist, könnte morgen ohne Medikament dastehen.
„Diese Reform ist lebensfremd. Viele Patienten sind nicht in der Lage, regelmäßig eine Praxis aufzusuchen. Das gilt vor allem für Menschen mit Mobilitäts- oder Immunschwäche“, erklärt ein Vertreter des Bundesverbands für Cannabis als Medizin.
Auch Ärzte sehen die geplanten Verschärfungen kritisch. Sie warnen vor zusätzlicher Bürokratie und der Gefahr, Patienten in die Illegalität zu drängen. Wie Tagesschau berichtet, fehlen vielerorts die Kapazitäten für eine persönliche Konsultation bei jedem Rezept.
Hinzu kommt die Belastung für Apotheken: Diese dürfen zwar weiterhin Medikamente versenden – außer es handelt sich um Medizinalcannabis. Eine Entscheidung, die aus Sicht vieler Fachleute weder medizinisch noch rechtlich nachvollziehbar ist.
Ein besonders dramatisches Beispiel kommt von einem Afghanistan-Veteranen, der seit Jahren auf Cannabis angewiesen ist. „Ich bin psychisch und körperlich am Ende. Das Medikament hilft mir, überhaupt durch den Tag zu kommen. Alkohol ist erlaubt – aber Cannabis soll eingeschränkt werden? Das ist absurd“, so seine Aussage auf der Plattform Change.org.
Juristische Bewertung: Patientenrechte in Gefahr
Rechtlich ist die Lage heikel. Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Einschränkungen bei der Versorgung mit notwendigen Medikamenten greifen potenziell in dieses Grundrecht ein – vor allem dann, wenn sie willkürlich oder unverhältnismäßig erscheinen.
Zudem stellt sich die Frage, ob ein Versandverbot mit dem Sozialgesetzbuch vereinbar ist. § 31 Abs. 6 SGB V sieht die Versorgung mit Cannabis ausdrücklich vor – inklusive ärztlicher Begleitung. Ein faktisches Hinauszögern durch zusätzliche Hürden widerspricht diesem Gedanken.
Leitsatz: Der Zugang zu gesetzlich vorgesehenen Arzneimitteln darf nicht durch administrative Vorgaben faktisch vereitelt werden.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in früheren Urteilen klargestellt, dass „die gesundheitliche Versorgung dem Prinzip der Zumutbarkeit und Gleichbehandlung unterliegt“ (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.04.2020 – 1 BvR 1236/19).
Spenden, Protest und digitale Petitionen
Gegenwind kommt nun aus der Bevölkerung. Innerhalb weniger Tage haben über 6.000 Unterstützer eine Petition auf Change.org unterschrieben, die sich gegen die geplanten Einschränkungen richtet. Die Initiatoren fordern:
- Gleichberechtigten Zugang zu Medizinalcannabis unabhängig vom Wohnort
- Erhalt des Apothekenversands
- Schutz bestehender Therapien
- Inklusion von Behinderten, Pflegebedürftigen und anderen besonders betroffenen Gruppen
Auch Spenden werden gesammelt, um politische Aufmerksamkeit zu erzeugen. Bücher zum Thema boomen – viele Patienten informieren sich zunehmend selbst über ihre Rechte, Wirkstoffe und Alternativen.
Die Rubrik Gesundheit der SN SONNTAGSNACHRICHTEN dokumentiert fortlaufend die Entwicklung rund um das Thema Medizinalcannabis.
Fazit: Politik muss Versorgung statt Ideologie sichern
Was als Sicherheitsmaßnahme verkauft wird, gefährdet in Wahrheit die Gesundheitsversorgung vieler Menschen. Der Schutz vor Missbrauch darf nicht dazu führen, dass Bedürftige unter Generalverdacht gestellt werden. Eine moderne Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht – nicht daran, wie sie Verbote durchsetzt.
Die SN SONNTAGSNACHRICHTEN appellieren an den Gesetzgeber: Stellen Sie Versorgung, medizinische Notwendigkeit und Patientenwohl über Symbolpolitik. Patienten sind keine Kriminellen – sie haben ein Recht auf Hilfe.