Berlin/Bochum/Potsdam. [sn] Der Zeitpunkt ist bemerkenswert gewählt: Am 17. Oktober 2025 veröffentlicht Herbert Grönemeyer sein zweites Unplugged-Album „Unplugged 2 • Von allem anders“. Drei Jahrzehnte nach der ersten akustischen Zäsur blickt der Bochumer auf sein Werk seit Mitte der 1990er-Jahre – reduziert, neu gewichtet, mit klanglicher Tiefe und in enger Partnerschaft mit dem Rundfunkchor Berlin. Dass Grönemeyer dabei nicht bloß altes Material neu lackiert, sondern seine Stücke regelrecht auseinanderbaut und wieder zusammensetzt, macht den Reiz dieser Aufnahme aus. „Von allem anders“ ist keine Nostalgiepflege, sondern eine Werk-Inventur mit heutigen Ohren. Große Geste, leise Töne.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenKonzept: Akustik ohne Sicherheitsnetz – und ein 64-stimmiger Atem
Der Kern des Albums ist die akustische Reduktion bei gleichzeitiger Erweiterung um chorische Farben. Wo das klassische „MTV Unplugged“ der 1990er Jahre oft nur Stecker zog, sucht Grönemeyer 2025 das Gegenstück: das Skelett seiner Songs. Schlagzeug bleibt, aber kontrollierter; Gitarren rücken näher an die Stimme; Klavierlinien werden zum Puls; Streicher:innen und Holzbläser:innen setzen punktuelle Akzente. Die entscheidende Neuerung ist der Rundfunkchor Berlin, dessen dynamischer Atem Räume öffnet, in denen Grönemeyer vertraute Nummern wie „Mensch“, „Der Weg“ oder „Doppelherz/Iki Gönlüm“ neu gewichtet. Der Chor agiert nie als bloßer Hintergrund, sondern als zweites dramaturgisches Zentrum – mal als dichter Klangteppich, mal als strukturierte Gegenstimme. Dass diese Zusammenarbeit mehr ist als Zutat, belegen die ausverkauften Akustik-Konzerte im September in Dortmund und Berlin, die als klangliche Versuchsfelder vor dem Release dienten.
ÄHNLICHE THEMEN
Die Einspielung entstand über mehrere Sessions an Berliner Aufnahmestandorten; das ästhetische Leitbild lehnt sich an die Tradition der Berliner Studio-Kultur an, die seit Jahrzehnten Künstler:innen von David Bowie bis Depeche Mode geprägt hat. Dass der Produktionsraum Teil der Erzählung ist, hört man: Hallräume sind bewusst gesetzt, Transienten bleiben organisch, Close-Miking wird nicht kaschiert. Diese Nähe verträgt sich mit Grönemeyers Textpoetik, die immer von Alltagsbeobachtung, Verdichtung und einem Hang zum Stoßseufzer lebt – und die in der Akustik-Umgebung neue Luft bekommt. Hintergrund und Geschichte der legendären Hansa-Studios als Berliner Klangort lassen das Konzept zusätzlich schlüssig erscheinen.
Repertoire: Klassiker, ein neues Stück – und der kontrollierte Regelbruch
Die Dramaturgie folgt einem klaren Prinzip: Neu-Lesarten von Songs aus den vergangenen 30 Jahren, ergänzt um einen kalkulierten Regelbruch. Mit „Flieg“ ist ein neues Stück vertreten – taufrisch in Sprache und Harmonik, dabei schlicht genug, um in der Unplugged-Logik zu verfangen. Die zweite Ausnahme ist „Flugzeuge im Bauch“ (1984) – hier verdichtet der Chor die emotionale Fallhöhe dieses Über-Hits, ohne ihn zu überwältigen; die Stimme bleibt Anker, der Chor das Echo. Insgesamt umfasst die Veröffentlichung 23 Titel, die als Spannungsbogen zwischen Minimalismus („Mensch“ mit zurückgenommener Rhythmik) und verdichteter Klangskulptur („Warum“ mit Gästeinsatz) funktionieren. Dass diese Mischung nicht als Best-of getarnt daherkommt, sondern als Neu-Statement, daran hat die präzise Produktionshandschrift ihren Anteil. Format, Umfang und Erscheinungsdatum sind offiziell bestätigt; auch die VÖ-Strategie (Vorab-EP, Pre-Add, Vorbestellungen) deutet auf eine klassische Major-Rollout-Logik.
Stark sind jene Passagen, in denen Grönemeyer seine zeichenhaften Wörter – „Halt“, „Trost“, „Gemeinsamkeit“ – in den Chor hineinsingen lässt. Die Doppeldeutigkeit seiner Grammatik – zwischen Trost-Appell und leiser Ironie – bleibt erhalten, wird aber durch das Kollektivstimmen-Feld neu konturiert. „Akustik ist kein Verzicht, sondern eine Einladung“ – so klingt es, wenn man diese Produktion in einem Satz zusammenfasst.
Klangbild und Arrangement-Arbeit
Technisch steht das Album für eine zeitgemäße Akustik-Ästhetik: viel Headroom, gezähmte S-Laute, spürbare Atmer, wenige Hall-Schwänze. Die Band (u. a. Drums, Bass, Gitarre, Keys, Percussion) arbeitet wie eine Manufaktur, nicht wie eine Arena-Maschine. Das tut „Mensch“ gut, dessen Minimalismus nicht museal, sondern dringend wirkt. „Der Weg“ bleibt ein Balanceakt – wer die Originalversion kennt, hört feine Motiv-Verschiebungen im Piano-Pattern und die sanftere Artikulation der Stimme. Der Chor wird nie „breit“, sondern kontrolliert im Panorama geführt; Close-Mics mischen sich mit dezentem Raumanteil. All das führt zu einem Klang, der Live-Energie transportiert, ohne Live-Unschärfen in Kauf zu nehmen.
Kontext: Warum noch einmal Unplugged?
Die Antwort ist so simpel wie einleuchtend: Weil sich Lebensalter, Erfahrung und gesellschaftlicher Kontext ändern – und Songs, die man meinte zu kennen, auf einmal andere Fragen stellen. Unplugged heißt hier: dem Material die Rüstung ausziehen. Die 2025er-Version verzichtet auf Pathos-Überdruck und lässt stattdessen Leerstellen sprechen. Dass ein großes deutsches Feuilleton den Release auch politisch und kultursoziologisch rahmt – Stichworte: Volkslied-Erwartung, Selbstvergewisserung, Zeitdiagnose – unterstreicht, wie anschlussfähig Grönemeyers Werk nach wie vor ist.
Stückauswahl – Schlaglichter
- „Mensch“: Reduktion als Sog – weniger Beat, mehr Atmung; der Chor spiegelt die Leitmotive „Halt“ und „Zusammen“.
- „Der Weg“: Intimer, mit feiner Tempodehnung – der Schmerz bleibt, aber er steht nicht mehr im Sturm, sondern im Nachhall.
- „Warum“ (mit Gaststimme): Dialogform statt Monolog – die zweite Stimme eröffnet eine zweite Perspektive auf das „Warum“.
- „Flugzeuge im Bauch“: Regelbruch, aber plausibel – Chor als Resonanzraum, nicht als Samtdecke.
- „Flieg“ (neu): Melodischer Auftrieb, textlich im Grönemeyer-Register zwischen Lakonie und Verwundbarkeit.
Einordnung im Werk
Historisch markierte das erste Unplugged Mitte der 1990er eine Zwischenbilanz – aufgenommen im Studio Babelsberg, akustisch, aber noch klar innerhalb der damaligen Pop-Ästhetik verortet. 2025 greift „Von allem anders“ dieses Prinzip auf, allerdings mit heutiger Produktionsethik und mit Chorfokus. Das ist mehr als Selbstzitat – es ist eine Fortschreibung. Die Traditionslinie vom Babelsberger Konzertsaal bis zu den Berliner Studios, in denen die neue Platte entstand, ist deutlich – und sie erzählt auch Berliner Musikgeschichte.
Unplugged-Produktionen leben von der Spannung zwischen Intimität und Event. Grönemeyer löst das, indem er die Album-Logik eng an Live-Momente koppelt. Die September-Konzerte in Dortmund (Westfalenhalle) und Berlin (Velodrom) dienten als Resonanzraum fürs Arrangement-Feintuning; das Publikum bekam dabei eine Vorschau auf die spätere Studio-Balance aus Nähe, Druck und Luft. Für das Release-Fenster im Oktober ergibt sich somit ein doppelter Hebel: Konzert-Erinnerung trifft Studio-Neugier.
„Unplugged 2 • Von allem anders“ ist ein spätes, aber konsequentes Statement: Reife ohne Müdigkeit, Pathos ohne Kitsch, Handwerk ohne Manierismus. Wer Grönemeyer bislang als Arena-Künstler mit politischem Resonanzraum wahrnahm, hört hier den Text-Musiker, der seinen Wort-Energiehaushalt kennt und ihn neu verteilt. „Unplugged ist kein Museum“, könnte man sagen – und diese Platte ist der Beweis.
























