Herne. [sn] In der konstituierenden Sitzung des Rates am 04.11.2025 wurde ein Paket zur Besetzung der Fachausschüsse geschnürt. Auffällig: Der 30-jährige SPD-Ratsneuling Alexander Stahl, der sich im Kommunalwahlkampf als DJ bei „Buden-Raves“ in Herner Trinkhallen inszenierte, soll künftig einen Ausschussvorsitz führen. Dass ausgerechnet ein Wahlkampf-Format an Kiosken – Orte, die baurechtlich als Verkaufsstellen konzipiert sind, nicht als Veranstaltungsstätten – als Sprungbrett in die kommunale Verantwortung dient, wirft Fragen auf, die über Parteitaktik hinausgehen. Es geht um Recht, Maß und Verantwortung. Und um das Vertrauen von Bürger:innen in die Trennlinie zwischen Wahlshow und Amtsführung.
Wahlkampf-Inszenierung vs. Rechtsstaatlichkeit: Die offenen Punkte
„Buden-Raves“ sind keine harmlosen Launen. Wer Kioske zu temporären Veranstaltungsorten auflädt, verlässt den regulären Nutzungszweck. Dann stellen sich – zwingend – Fragen nach baurechtlicher Zulässigkeit (Nutzungsänderung), Lärmschutz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm), Sondernutzung öffentlicher Flächen, Schankrecht, Sicherheit, Flucht- und Rettungswegen sowie Haftung. Dazu hatte die Redaktion der SN SONNTAGSNACHRICHTEN im September einen detaillierten Fragekatalog an die Stadt Herne gerichtet – mit konkreten Terminen und Orten. Aus den städtischen Antworten ergibt sich: Für die angefragten Events lagen keine bau- und ordnungsrechtlichen Genehmigungen, keine Lärmschutzgutachten, keine Sicherheitskonzepte und keine Schankerlaubnisse vor; lediglich für die Inanspruchnahme öffentlicher Flächen wurde eine Sondernutzung erteilt. Die rechtliche Bewertung, so die Stadt, falle nicht unter den presserechtlichen Auskunftsanspruch. Das ist formal defensiv – und in der Sache unbefriedigend.
Wird eine Verkaufsstätte faktisch zur Versammlungsstätte, gelten andere Regeln. Wer Veranstaltungsbetrieb will, muss ihn genehmigen lassen. Sicherheits- und Immissionsschutzrecht dienen nicht administrativer Schikane, sondern dem Schutz von Besucher:innen und Nachbarschaft. Das gilt erst recht in dicht bebauten Quartieren, wo Kioske oft im Erdgeschoss mehrgeschossiger Wohnhäuser liegen.
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Die politische Dimension: Eignung, Vorbild und Verantwortung
Im Lichte dessen wirkt die Personalie Stahl wie ein Stresstest für Glaubwürdigkeit. Die SPD präsentiert einen politisch talentierten Wahlkämpfer, der an Kiosken Aufmerksamkeit erzeugte – dokumentiert in Social-Media-Formaten der Partei und auf seinen eigenen Profilen – und lässt ihn nun „den Ton angeben“: nicht mehr vom DJ-Pult, sondern als Vorsitz in einem städtischen Ausschuss. Nähe zum Publikum ersetzt jedoch keine rechtskonforme Veranstaltungsdurchführung. Politische Verantwortung beginnt damit, Vorbilder zu setzen, die Regeln nicht nur zitieren, sondern einhalten. Das wirft Rückfragen an Auswahl, Eignung und Selbstverständnis einer Ratsfraktion auf, die Seriosität reklamiert und zugleich Wahlkampf-Gimmicks zum Karriereaufzug erhebt.
Wer jetzt einwendet, man dürfe jungen Ratsmitgliedern nicht jede kreative Kampagne nachtragen, verfehlt den Punkt. Es geht nicht um Geschmack, sondern um Compliance. Wenn der Schritt vom ungenehmigten Event (sofern die erforderlichen Genehmigungen tatsächlich fehlten) in eine Ausschussleitung führt, sendet das an Veranstalter:innen, Gewerbetreibende und Bürger:innen das falsche Signal: Wer Reichweite erzeugt, definiert die Regeln nachträglich. Das ist kulturpolitisch naiv und ordnungsrechtlich gefährlich.
Die Verwaltung in der Defensive
Dass die Stadt Herne die presserechtliche Nachfrage zur rechtlichen Bewertung der Events mit dem Hinweis abblockte, diese sei vom Auskunftsanspruch nicht gedeckt, ist formal vertretbar – und politisch kurzsichtig. Verwaltung ist nicht dazu da, Unangenehmes zu ummänteln, sondern Transparenz zu schaffen: Welche Prüfmaßstäbe gelten? Wann wird ein Ordnungsgeld verhängt? Wie werden Lärm- und Sicherheitsfragen im urbanen Bestand konkret gehandhabt? Und warum werden parteinah beworbene Wahlkampf-Formate geduldet, ohne dass – jedenfalls nach Aktenlage der Anfrage – die klassischen Sicherungen sichtbar wurden?
Man kann über die Ausgestaltung von TA Lärm, Landesbauordnung und Sondernutzungsrecht streiten. Nicht verhandelbar ist: Gleichbehandlung. Wo an anderer Stelle temporäre Nutzungen streng untersagt werden, müssen parteinah beworbene Formate denselben Maßstab ertragen. Dass Koalitionsarithmetik dem Wahlverlierer-Lager dennoch zahlreiche Schlüsselpositionen sichert, ist demokratisch gedeckt – und in der Wirkung fatal: Es nährt den Eindruck, dass Postenlogiken die Rechtskultur übertönen.
„Bude ist Kultur“ – dieser Satz wird oft bemüht. Trinkhallen gehören zur Ruhrgebietsidentität, manche stehen unter dem Schirm der Denkmalpflege. Genau deshalb verdienen sie sorgsame, rechtskonforme Inszenierung statt improvisierter Wahlshows. Der Verweis auf „nur ein bisschen Musik“ verkennt die Schwelle vom Verkaufs- zum Veranstaltungsbetrieb. Und wer Kulturpolitik ernst nimmt, schützt Publikum, Nachbarschaft und Orte – zuerst durch Regeln, dann durch Lautstärke.
Opposition in der Bringschuld
Ob solche Personen in Ausschüssen den Ton angeben sollen, mag dahingestellt sein. Entscheidend ist, dass die Opposition ihre Kontrollfunktion endlich ernst nimmt. Wenn Wahlverlierer:innen trotzdem Schlüsselposten besetzen, liegt das weniger an genialer Taktik als an der Schwäche und fehlenden Durchsetzungskraft der übrigen Fraktionen. Wer sich in Zugriffsverfahren überrumpeln lässt, wer Vorlagen abnickt, statt Akten beizuziehen, Sachaufklärung zu beantragen und Verwaltungshandeln zur Gleichbehandlung aller Veranstalter:innen zu zwingen, verspielt Vertrauen. Erwartet werden saubere Anträge, öffentliche Debatten, Präzisierungen der Prüfmaßstäbe und – wo nötig – klare Beanstandungen im Rat. Kurz: Ohne eine wache, konfliktfähige Opposition bleibt Herne bei Postenfragen laut, bei Rechtsfragen leise.
























