Herne. [sn] Wer als Herausforderer:in Wahlversprechen formuliert, darf sie in Koalitionsverhandlungen nicht am Eingang des Rathauses abgeben. Genau das aber ist der Eindruck, den die CDU Herne zum Start der Wahlperiode 2025 – 2030 hinterlässt. Der Kooperationsentwurf mit der SPD liest sich wie ein Katalog guter Vorsätze – solide, breit, pflegeleicht. Was fehlt, sind sichtbare, profilbildende Durchbrüche der Christdemokrat:innen. Besonders augenfällig: Der von der CDU im Wahlkampf als „Game-Changer“ beworbene zusätzliche S-Bahn-Haltepunkt „Herne-Crange“ – ein Projekt mit realem Nutzenhebel für Blumenthal-Areal, Crange, Wanne-City und den regionalen Pendelverkehr – taucht in den Eckpunkten nicht als Priorität auf. Stattdessen wird die Erschließung des Blumenthal-Quartiers „in erster Linie“ über eine Seilbahn favorisiert (Eckpunkte-Entwurf, Abschnitt „Arbeit“). Politisch ist das ein Preis, der die eigene Verhandlungsmasse billig macht: Wer das schärfste Wahlkampfinstrument freiwillig ins Etui steckt, darf sich nicht wundern, wenn es am Ende wie ein Rabattvertrag aussieht.
Im Wahlabend-Echo klang noch Mut an: Die Ratswahl endete am 14.09.2025 mit 37,02 % für die SPD, 22,44 % für die AfD und 17,84 % für die CDU; Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda (SPD) wurde am 22.09.2025 im ersten Wahlgang direkt bestätigt. Das ist die faktische Ausgangslage – und sie hätte die CDU zwingen müssen, in Koalitionsgesprächen harte, überprüfbare Wegmarken zu setzen, statt sich in Verwaltungspoesie zu retten.
Vom Wahlversprechen zur Koalition – wo die CDU sichtbare Punkte liegen lässt
Beginnen wir mit der Verkehrs- und Standortfrage. Wer die Entwicklung des Blumenthal-Areals ernst meint, braucht leistungsfähige, skalierbare Anbindungen. Genau dafür steht der zusätzliche Haltepunkt „Herne-Crange“ – in städtebaulich sinnvoller Lage an der Dorstener Straße, als Ergänzung zu Wanne-Eickel Hbf und Herne Hbf im Netz der S-Bahn Rhein-Ruhr. Das Konzept ist im Revier etabliert: Netzverdichtung über zusätzliche Stationen, geringe Baukosten im Vergleich zu Neubau-Systemen, hoher Taktnutzen, direkte Regionalzug-Anbindung. Diese Argumente hat die CDU – namentlich die OB-Kandidatin Bettina Szelag – im Wahlkampf pointiert vertreten; lokale Medien nahmen das auf.
Der Eckpunkte-Entwurf setzt gleichwohl an zentraler Stelle auf eine Seilbahn als primäres Erschließungsinstrument für Blumenthal. Politisch ist das ein Widerspruch zum eigenen Wahlprofil: Seilbahnen sind Speziallösungen mit begrenzter Netzkompatibilität; zusätzliche S-Bahn-Halte – zumal im dichten VRR-Korridor – sind verkehrsökonomisch robuster und skalieren mit dem Bestand. Dass die CDU hier keine belastbaren Quantifizierungen (Kapazität, Betriebs-OPEX, Schnittstellen, Realisierungsfenster) vertraglich gesetzt hat, sondern einer Einzellösung den Vorrang lässt, wirkt wie Selbstentwaffnung – zumal Förderfenster für SPNV-Nahverkehrsinfrastruktur (Schöner-Ankommen-Programm, Bahnhofsumfeld, Haltepunkte) seit 2021 bestehen und kommunale Initiativen gerade hier Wirkung entfalten.
Wer die Profilfrage stellt, blickt über den Verkehr hinaus: In den Rubriken Sicherheit/Ordnung (mehr KOD-Präsenz, Prüfauftrag Videoüberwachung, Task-Force Problemimmobilien), Soziales, Sport (Bäderthemen, Sportstättenkonzept) und Finanzen (Genehmigungsfähigkeit, Fördermittelmanagement) liest sich der Entwurf wie eine SPD-geprägte Verwaltungslinie, die die CDU mitträgt, aber nicht formt. Gewiss, vieles ist vernünftig. Nur: Vernunft ist keine Alleinstellungsmarke. Sie ersetzt keine Signalprojekte, die eine Koalition auch asymmetrisch mitprägt. Ohne solche Marker bleibt von „Mitregieren“ zu oft nur „Mitverwalten“.
Dass die Koordinierungsmechanik (Koordinierungsgruppe, Enthaltungen bei Dissens, Rückstellungen, modifizierte Fraktionsdisziplin) stark auf Konfliktvermeidung ausgerichtet ist, passt ins Bild: Stille statt Streitkultur – politisch bequem, demokratisch sterile Routine. Die Folge ist absehbar: Wähler:innenbindung entsteht nicht aus harmonisierter Ausschuss-Prosa, sondern aus unverwechselbaren Projekten, die mit dem eigenen Logo verbunden bleiben.
Zwischenfazit: Wenn die CDU Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, braucht sie nicht 200 Seiten gutes Wollen, sondern zwei Sätze harte Selbstbindung:
- „Bf Herne-Crange“ bis 20XX in die Machbarkeit (VF, Nutzen-Kosten-Nachweis, Planungsauftrag VRR/DB Netz)
- Gegenfinanzierung und Bahnhofs-Umfeld mit realen Haushaltsansätzen, statt nur Prüfaufträgen.
„Ist eine Stimme schlechter als die andere?“ – rechtlicher Realitätscheck und politischer Anstand
Der Vorwurf, der amtierende Oberbürgermeister sei „mit Stimmen von AfD-Wähler:innen“ gewählt worden, ist politische Rhetorik, aber rechtlich irrelevant. Das Wahlrecht differenziert nicht nach Motiv oder Parteipräferenz von Wähler:innen. Maßgeblich ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG für Kommunalwahlen), wonach jede Stimme gleichen Zählwert und gleichen Erfolgswert hat. Das Bundesverfassungsgericht hat die Wahlgleichheit unzählige Male bekräftigt; sie gilt für Bundestag, Länder – und als Homogenitätsvorgabe auch für Kommunen. Kurz: Keine Stimme ist „schlechter“ als die andere.
Wer also politisch mit „falschen Stimmen“ hantiert, vernebelt juristische Klarheit. Der legitime Weg, Mehrheiten zu delegitimieren, führt nicht über die Abwertung einzelner Stimmen, sondern über politische Alternativen, Transparenz im Regierungshandeln und harte Kontrolle der Koalition im Alltag: Haushaltsklarheit, Termintreue, Projektverträge und öffentlich nachvollziehbare Meilensteine.
Das bringt uns zurück zur CDU. Sie kann die Koalition in Richtung echter Standort- und Mobilitätsrendite schieben – wenn sie will. Dazu braucht es drei Dinge:
- Herne-Crange festnageln. Ein verbindlicher politischer Beschluss zur Vorplanung (Leistungsphasen 1–2 HOAI) mit klarer Aufgabenverteilung (Stadt/VRR/DB Netz) und belastbarer Kostenobergrenze. Dafür spricht nicht nur die Netzkompatibilität, sondern auch die Kostenrelation: Zusätzliche Haltepunkte liegen typischerweise im unteren zweistelligen Millionenbereich, Seilbahnen und Tram-Verlängerungen kosten signifikant mehr. Wer öffentliche Mittel effizient einsetzen will, bilanziert Netzwirkung vor Symbolik.
- Bahnhofsachsen aufwerten. Wanne-Eickel Hbf ist der Leitanker – jede neue Station muss funktional andocken. Es braucht Bahnhofsumfeld, Sicherheitsgefühl, Barrierefreiheit, Rad- und Fußwege – die rechtliche und finanzielle Flankierung dafür ist seit 2021 gelegt (Städtebau- und DB-Programme).
- Koalitionsmanagement vom Kopf auf die Füße stellen. Statt „Rückstellungen bei Dissens“: Transparente Prioritätenliste mit quartalsweiser Fortschreibung im Ausschuss, öffentliches Ampel-Reporting (grün/gelb/rot) für Top-10-Projekte, Fraktionsfreiheit bei „Herzensprojekten“ (auch das schafft Profil). Politische Unterschiede sind kein Schaden, sondern Demokratie im Betrieb.
Und ja: Es wäre der CDU zuzumuten gewesen, in der Personal- und Beteiligungsarchitektur nicht nur Vorschlagsrechte zu sichern, sondern Reformaufträge zu verankern – etwa bei Entsorgung Herne (Transparenz/Controlling), WFG/FEG-Verzahnung (klarer KPIs), oder Task-Force Problemimmobilien (Durchgriffsrechte, Sanktionskatalog). Ohne solche Durchsetzungsmarker bleibt vom Regierungsversprechen nur ein freundliches Nebenher.