Aachen/Bonn/Boppard/Dortmund/Essen/Herne/Rösrath/Rotterdam (NL)/Wanne-Eickel. [sn] Gut vier Jahrzehnte nach der zweiten Verurteilung am 3. April 1985 ist der Name Erhard Goldbach untrennbar mit dem größten Benzin- und Steuerbetrug der Bundesrepublik verbunden – und mit der Frage, warum Behörden, Politik und Teile der Wirtschaft so lange wegsahen. Der frühere Kohlenhändler aus Wanne-Eickel schuf mit „Goldin“ in den 1970er-Jahren ein Tankstellen-Imperium mit über 250 Stationen, versprach „immer zwei Pfennig billiger“ und befeuerte damit einen Preiskampf, der tausende Autofahrer:innen begeisterte und Konkurrent:innen provozierte. Hinter der Fassade aus Kampfpreisen, glitzernden Plänen und Fußball-Mäzenatentum wuchs jedoch ein System aus Steuerhinterziehung, falschen Belegen, verzögerten Abgaben, Schwarzgeld und geschönten Tankkarten. Die Zollfahndung schlug am 24. Juli 1979 in Herne zu; Goldbach floh, wurde im Februar 1980 in Boppard gefasst und 1980 zunächst wegen Betrugs verurteilt, bevor 1985 das lange Urteil wegen massiver Steuerhinterziehung folgte. In Summe lautet das nüchterne Fazit: Hunderte Millionen Mark nicht abgeführter Abgaben, ein kollabiertes Firmengeflecht, ein zerstörter Fußball-Traum bei Westfalia Herne – und bis heute verschwundene Millionen, die nach Meinung vieler Bürger:innen irgendwo als Bargeldspuren begraben liegen könnten.
Erhard Goldbach – für die einen bis heute der „Robin Hood der Zapfsäule“, für andere ein Sinnbild maßloser Selbstüberschätzung – nutzte die besondere Lage der Mineralölsteuer, die damals zeitversetzt abzuführen war, als kostenlosen Kredit. Während am Rotterdamer Spotmarkt die Preise zeitweise explodierten, hielten die Goldin-Zapfsäulen an Niedrigpreisen fest, die weit unter den Einkaufskosten lagen; der Ausweg waren Steuerstundungen, verschobene Zahlungen und Transaktionen, die buchhalterisch glänzten, in der Wirklichkeit aber eine immer größere Lücke rissen. Nach zeitgenössischen Berichten half politischer Rückenwind – bis hin zur Bundesebene in Bonn – dem Emporkömmling aus dem Revier mit wohlwollenden Fristen und einer staatlichen Bürgschaft von umgerechnet rund 9,2 Mio € (aus 18 Mio DM), während die Zollfahndung in Dortmund früh Verdacht schöpfte, aber wiederholt gebremst wurde. „Wir brauchen Lösungen, nicht Legendenbildung“, mahnen heute Herner Bürger:innen, die fordern, das Zusammenspiel von Behörden, Politik und einem aggressiven Marktakteur ehrlich aufzuarbeiten.
Wie realistisch ist die Steuerschuld? Die offiziell genannte Steuerschuld von rund 360 Millionen DM wirkt zunächst überzogen. Doch ein einfacher Rechenweg zeigt, dass sie durchaus plausibel sein kann. Setzt man an, dass über knapp drei Jahre rund 20.000 Tankwagenladungen à 40.000 Liter Benzin am Fiskus vorbeigeschleust wurden, ergibt sich eine Gesamtmenge von etwa 800 Millionen Litern. Bei einer Mineralölsteuer von rund 0,44 DM pro Liter wären das rund 352 Millionen DM. Damit liegt die Rechnung erstaunlich nah an der bekannten Zahl. Im Alltag bedeutete das: Fast 19 Tankwagen täglich, über Jahre hinweg. Eine Dimension, die verdeutlicht, wie gigantisch der Betrug angelegt war – und warum die Summe zwar utopisch wirkt, aber rechnerisch durchaus erreichbar ist.
Die Chronik des Skandals lässt sich in wenigen Eckdaten erzählen – und bleibt doch ein Lehrstück über Strukturen. Ende der 1970er-Jahre belieferten täglich Lkw die Goldin-Stationen, während ein Teil der Mengen an Zoll und Fiskus nie auftauchte. Am 24. Juli 1979 die Razzia am Tanklager an der Heerstraße in Wanne-Eickel, kurz danach die Flucht ins Ausland, dann die Festnahme in Boppard; im selben Sommer startete Westfalia Herne mit zugeklebtem Trikot-Schriftzug in die Saison, gab aber Tage später die Lizenz ab: Der sportliche Höhenflug war mit einem Mal Geschichte. Der Verein wurde organisatorisch neu sortiert, die Stadt seziert den Fall bis heute in Gesprächen und Ausstellungen – denn für Herne und Wanne-Eickel war Goldbach mehr als ein Tankstellenchef: Er war Mäzen, Platzhirsch, Projektionsfläche. Die Mannschaft fuhr noch kurz vor dem Knall zum Test nach Aachen, die Nachricht von der Razzia lief im Radio. Danach war nichts mehr wie zuvor.
Goldbachs Netz wuchs seit den späten 1950er-Jahren aus der ersten freien Station an der Heerstraße – lokale Zeitzeug:innen datieren die Anfänge häufig auf 1958 – zu einer Kette von mehr als 250 Zapfsäulenstandorten; der Standort der „ersten“ Herner Station besteht, wenn auch modernisiert, bis heute. Dazu kamen Tanklager, ein eigener Ölhafen am Rhein-Herne-Kanal und eine Logistikflotte. In die öffentliche Wahrnehmung schrieb sich Goldbach mit der Umbenennung der Lizenzspieler-Abteilung von Westfalia: „SC Westfalia 04 Goldin Herne“ – ein Coup, der Bundesweit Aufmerksamkeit weckte. Als die Ermittlungen Fahrt aufnahmen, zeigte sich, wie labil das Konstrukt war. Für die Region bedeutete das einen doppelten Schock: wirtschaftlich und emotional.
Der Mann hinter dem Mythos war kein Einzeltäter im luftleeren Raum. Unterlagen, Aussagen von Beschäftigten und Recherchen zeigen, wie Prüfroutinen umgangen, Messlote manipuliert, Nachtanlieferungen organisiert und Tageseinnahmen ohne Quittung abgeholt wurden. Gleichzeitig schwärmen Zeitzeug:innen bis heute davon, wie sehr „Goldin“ als Preisbrecher:in den Alltag der Autofahrer:innen erleichterte. Vielen galt der bullige Unternehmer als einer, der „es den Großen zeigt“. Genau darin lag die Gefahr: Die Mischung aus Populismus, Pioniergeist und dem Versprechen billigen Benzins klebte wie ein Lack über der Realität aus Steuerhinterziehung, Scheinkrediten und auf Effekte getrimmter Expansion. Wer sich erinnert, erinnert sich an Bilder: das Tanklager am Kanal, der Geruch von Diesel, der Blitz der Kameras bei der Razzia – und die Schlagzeilen beim Absturz.
Die persönliche Tragödie gehört dazu. Während der Verfahren nahm sich seine langjährige Lebensgefährtin das Leben, eine Wunde, über die in der Stadt bis heute mit gesenkter Stimme gesprochen wird. Goldbach selbst hinterließ nach allem, was aus Familienkreisen berichtet wird, drei Kinder; er kam 1998 vorzeitig frei, versuchte ein Comeback im Tankstellengeschäft, scheiterte und starb 2004 in Herne. Die verschwundenen Millionen wurden nie gefunden. In Herne und Wanne-Eickel wird immer wieder gestichelt, das Geld könne als Bündel irgendwo in Betonmauern, Dächern oder Tanks stecken – irgendwo zwischen Heerstraße, Tanklager und Ölhafen. „Vielleicht liegt die Wahrheit näher, als wir denken“, sagt eine ältere Anwohnerin, die den Aufstieg und Fall vor der Haustür miterlebt hat.
Die Spuren vor Ort – und die offenen Fragen
Wer heute an der Heerstraße in Wanne-Eickel vorbeifährt, erkennt: Die Topografie des Skandals ist nicht verschwunden. Das Tanklager am Kanal, die Trassen der Logistik, der Standort der ersten Station – sie sind Teil der Stadtlandschaft, so unscheinbar wie präsent. Die Stadt Herne hat in den vergangenen Jahren immer wieder aufgearbeitet, was aufzuarbeiten ist, und auch im Stadtarchiv lassen sich die Schlaglichter recherchieren. Gleichzeitig hat eine neue Generation in Herne, Essen und Dortmund wenig Bezug zum Fall – der Skandal wirkt wie ein Kapitel aus einem Kriminalroman, nicht wie etwas, das die lokale Ökonomie und den Fußball einmal in den Grundfesten erschütterte. Dabei zeigen zeitgenössische und heutige Recherchen: Neben dem ökonomischen Größenwahn gab es ein dichtes Geflecht aus politischer Protektion, „Vitamin B“ und institutionellen Routinen. In Bonn wurden Steuerstundungen gewährt; in Teilen der Verwaltung entstand der Eindruck, Kontrolle könne man auch einmal „pragmatisch“ handhaben. Dass eine große Razzia erst 1979 kam, obwohl Zweifel schon Jahre zuvor aktenkundig waren, ist ein Puzzle-Teil dieser Geschichte – ebenso wie die Tatsache, dass ein Traditionsverein aus der Emscherstadt zeitweilig zum Sprungbrett in die Bundesliga werden sollte und dann buchstäblich über Nacht vom Profifußball verschwand. Wer verstehen will, wie es dazu kam, muss fragen, wie Entscheidungswege funktionierten – im Rathaus, in den Behörden, in den Ministerien.
Viele der Mechanismen sind zeitlos. Die Zollfahndung sprach schon damals von erdrückenden Indizien; gleichzeitig beförderte der Blick auf die „freien“ Tankstellen den politischen Wunsch, gegen die „Multis“ am Markt eine lokale, günstige Alternative zu pflegen. Dieses Spannungsfeld trug den Skandal mit – und es erklärt, warum die Debatte um „billigen Sprit“ bis heute Emotionen weckt. Als Westfalia Herne 1979 die Lizenz zurückgab, brach nicht nur ein sportlicher Traum weg; es tobte auch eine moralische Debatte in Kneipen und Wohnzimmern, in der sich viele fragten, ob man den Preisbrecher nicht viel früher hätte stoppen müssen. In Boppard endete die Flucht; in Rösrath, Bonn und Dortmund wirkten Netzwerke, die in den Akten vielerorts nur als Andeutung auftauchen. Die Recherchen der vergangenen Jahre, nicht zuletzt in lokalen Medien, haben diese Verästelungen nachgezeichnet – und doch bleibt manches nur als Gerücht greifbar. Was handfest bleibt, sind Urteile, Daten, Summen: die zweite Verurteilung 1985, die Verletzung des Gemeinwesens um umgerechnet rund 184 Mio € (aus 360 Mio DM) und die bis heute im Dunkeln liegenden Geldströme. Wer durch Herne und Wanne-Eickel geht, sieht steinerne Zeugen. Wer in die Archive steigt, erkennt die Systemfehler. Und wer die Gespräche auf der Straße sucht, hört Sätze wie: „Billig tanken ist nett – aber wir haben den Preis teuer bezahlt.“
Lehren aus dem Skandal – Das System Otto Weigel
Der Fall Goldbach/Goldin zeigt, wie eng wirtschaftlicher Größenwahn, politische Protektion und Behördenversagen miteinander verflochten sein können. Bereits Mitte der 1970er-Jahre gab es Zweifel an den Büchern, doch die Expansion ging weiter; erst als die Beweise erdrückend waren, griff der Staat durch – und selbst dann blieb vieles Flickwerk. Für die Bürger:innen bleibt die Erinnerung an billiges Benzin und knisternde Aufbruchsstimmung. Für den Staat bleibt die bittere Erkenntnis, dass eine Person über Jahre dreistellige Millionenbeträge an Abgaben verschieben konnte, weil Kontrollketten rissen, Zuständigkeiten verwischten und „Vitamin B“ zu oft zählte. Vierzig Jahre nach der zweiten Verurteilung lohnt der Blick nach vorn: Wer Mineralölsteuer, Lieferketten und Massenzahlungen digital nachvollziehbar macht, wer Prüfungen unabhängig organisiert und wer lokale Verwaltungen gegen informelle Einflussnahmen stark macht, sorgt dafür, dass sich ein Fall wie Goldbach nicht wiederholt. Dazu gehört auch, Erinnerung wachzuhalten: in Schulen, in Vereinen, im Stadtarchiv und in den Medien – von der lokalen Berichterstattung bis zu überregionalen Beiträgen der großen Sender. Wenn überregionale Zeitungen über Wirtschaftskriminalität berichten, erinnert es daran, dass solche Fälle keine Randgeschichten sind, sondern den gesellschaftlichen Kitt angreifen. Wer jetzt meint, alles sei Vergangenheit, dem sei entgegnet: Das System, in dem ordnungsbehördliche Nützlichkeit über Prävention gestellt wird, wirkt mancherorts bis heute fort – in Aktenplänen, in Denkmustern, in der Sehnsucht nach schnellen Lösungen. Gerade deshalb sollte Herne selbstbewusst sagen: Wir klären auf, wir lernen, wir schützen unser Gemeinwesen.
Wer die Geschichte nachlesen will, findet aussagekräftige Darstellungen – von journalistischen Reportagen bis zu lokalhistorischen Arbeiten. Ein guter Ausgangspunkt ist der Wikipedia-Eintrag zu Erhard Goldbach; er zeichnet das Grundgerüst nach. Vor Ort lohnt zudem der Blick auf die Stadt Herne mit ihren Archiven und Angeboten. Ergänzend gibt es solide Literatur zu Wirtschaftskriminalität – wer sich einen Überblick verschaffen möchte, findet etwa passende Titel bei Amazon. Und weil Wirtschaft, Sport und Boulevard zuweilen nahe beieinander liegen, diskutieren wir die kulturgeschichtlichen Seiten der Affäre gern weiter in unserer Rubrik Boulevard.