Herne. [sn] Die Stadt Herne steht vor einer weitreichenden Entscheidung über die Gestaltung ihres öffentlichen Raums und die Aufarbeitung ihrer Geschichte. Im Zentrum der aktuellen Diskussion steht die Heinrich Lersch Straße im Stadtteil Röhlinghausen, deren Namenspatron aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus zunehmend in die Kritik geraten ist. Horst Schröder, bekannt als Graf Hotte, hat nun einen offiziellen Antrag auf Umbenennung an den Oberbürgermeister der Stadt Herne, Herrn Dr. Frank Dudda, gestellt. Das Ziel dieses Vorhabens ist es, die Erinnerung an eine belastete historische Figur durch die Würdigung verdienter Bürger:innen zu ersetzen. Schröder schlägt in seinem Schreiben vom 04.12.2025 vor, die Straße künftig nach Ursel Müller zu benennen. Ursel Müller (1944–2023) war über drei Jahrzehnte als Vorsitzende der Organisation DLRG in Wanne-Eickel tätig und wurde für ihr außergewöhnliches ehrenamtliches Engagement mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Heinrich Lersch (1889–1936), einstmals als Arbeiterdichter gefeiert, wird heute kritisch betrachtet. Er gehörte zu jenen 88 deutschen Schriftsteller:innen, die im Jahr 1933 das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler unterzeichneten. Seine Werke, darunter das bekannte Gedicht mit der Zeile „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“, wurden vom NS-Regime für Propagandazwecke instrumentalisiert. Ein detaillierter Wikipedia-Artikel Heinrich Lersch gibt weiteren Aufschluss über die Brüche in seiner Biografie. Die Initiative von Schröder greift eine Entwicklung auf, die bundesweit zu beobachten ist: Kommunen prüfen verstärkt, ob die Ehrung von Personen, die das NS-System aktiv unterstützten, noch mit den Werten einer modernen, demokratischen Gesellschaft vereinbar ist. Laut dem Nachrichtenmedium Nachrichtenmedium Tagesschau gibt es in vielen deutschen Städten ähnliche Bestrebungen, wobei oft der Widerstand gegen die Kosten und der bürokratische Aufwand für die Anwohner:innen als Gegenargumente angeführt werden.
In seinem erweiterten Vorschlag vom 16.12.2025 präzisiert Schröder seine Argumentation und bringt eine zweite verdiente Frau der Stadtgeschichte ins Spiel: Magdalene Sonnenschein. Sie war die langjährige Ehrenpräsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Herne und Wanne-Eickel. Schröders Vision sieht vor, die Heinrich Lersch Straße, die lediglich die Hausnummern 1 bis 3 umfasst, in Magdalene-Sonnenschein-Straße umzubenennen. Den Namen Ursel Müller hingegen möchte er für die Belgorodstraße reservieren. Diese führt direkt zur Wache der DLRG, die Müller maßgeblich mit aufgebaut hat. Damit würde ein inhaltlich schlüssiger Bezug hergestellt, der über eine reine Namensänderung hinausgeht. Der:die durchschnittliche Bürger:in könnte so eine direkte Verbindung zwischen dem Straßennamen und dem Wirken der geehrten Person am jeweiligen Ort herstellen. Schröder betont, dass die Kosten für die Umbenennung der Heinrich Lersch Straße aufgrund der geringen Anzahl an betroffenen Anwohner:innen minimal wären.
Rechtliche Rahmenbedingungen und politische Debatte
Die Umbenennung von Straßen ist in Nordrhein-Westfalen ein formaler Akt, der auf der Grundlage der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) erfolgt. Gemäß § 41 Abs. 1 S. 2 GO NRW obliegt die Entscheidung über die Benennung von Straßen in der Regel der Bezirksvertretung, sofern es sich um eine Angelegenheit handelt, deren Bedeutung nicht über den Stadtbezirk hinausgeht. In der Vergangenheit haben Gerichte wiederholt bestätigt, dass Kommunen bei der Benennung und Umbenennung von Straßen ein weiter Ermessensspielraum zusteht. So entschied das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen in seinem Urteil vom 17.02.2015 (Az. 14 K 2686/14), dass Anwohner:innen grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Beibehaltung eines Straßennamens haben. Eine Umbenennung ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn das öffentliche Interesse an einer Distanzierung von einem historisch belasteten Namensgeber das private Interesse der Anwohner:innen an der Vermeidung von Unannehmlichkeiten überwiegt.
Der:die politische Entscheidungsträger:in muss hierbei eine Abwägung vornehmen. In Herne wird oft das Kostenargument ins Feld geführt, um Umbenennungen zu blockieren. Schröder kritisiert dies als unlogisch, da gleichzeitig über die Umbenennung der Belgorodstraße debattiert werde, die weitaus mehr Anwohner:innen betreffe. Die Belgorodstraße steht aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in der Kritik, da Belgorod eine russische Stadt ist. Eine Umbenennung in Ursel-Müller-Straße würde hier nicht nur eine verdiente Bürgerin ehren, sondern auch ein geopolitisches Statement setzen. Wer tiefer in die Materie der historischen Straßenbenennung eintauchen möchte, findet im Amazon-Produkt Straßennamen im Dritten Reich eine wissenschaftliche Aufarbeitung der damaligen Benennungspraxis. Es zeigt sich, dass viele Namen in den 1930er und 1950er Jahren ohne kritische Prüfung vergeben wurden, was die heutige Aufarbeitung umso dringlicher macht.
Schröder appelliert an den Rat der Stadt und die Bezirksvertretung Herne-Wanne, seinen kombinierten Vorschlag ernsthaft zu prüfen. Es dürfe kein „Entweder-oder“ geben. Die Stadt habe die Chance, zwei herausragende weibliche Vorbilder im Stadtbild zu verankern. In der Rubrik der SN SONNTAGSNACHRICHTEN wird die Diskussion über die Umbenennung aufmerksam verfolgt, da sie auch die Identität des Stadtteils Röhlinghausen betrifft. Die Forderung nach einer Magdalene-Sonnenschein-Straße und einer Ursel-Müller-Straße ist ein Plädoyer für eine geschlechtergerechte Erinnerungskultur. Bisher sind Frauen in der Herner Straßennomenklatur deutlich unterrepräsentiert. Eine moderne Stadt muss auch an ihren Straßennamen erkenntlich machen, für welche Werte sie heute einsteht. Der Prozess der Umbenennung ist somit nicht nur ein administrativer Vorgang, sondern ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Reife.
Perspektiven für eine neue Erinnerungskultur in Herne
Die vorgeschlagene Umbenennung der Heinrich Lersch Straße ist auch ein Signal an zukünftige Generationen. Wenn Schüler:innen heute im Unterricht über die Zeit des Nationalsozialismus lernen, ist es schwer zu vermitteln, warum im Stadtbild weiterhin Personen geehrt werden, die dem Regime die Treue schworen. Heinrich Lersch mag als Arbeiterdichter wichtige literarische Impulse gesetzt haben, doch seine politische Haltung ist untrennbar mit seiner Biografie verbunden. Die Entscheidung für Ursel Müller oder Magdalene Sonnenschein wäre hingegen eine Entscheidung für Werte wie Mitmenschlichkeit, Bürgersinn und ehrenamtliches Engagement. Diese Werte sind es, die eine Stadtgesellschaft zusammenhalten und die in der heutigen Zeit wichtiger sind denn je.
Die Verwaltung der Stadt Herne ist nun am Zug, den Eingang des Antrags formal zu bestätigen und das weitere Verfahren einzuleiten. Dabei müssen die zuständigen Ausschüsse die historischen Gutachten einbeziehen. Im Falle von Heinrich Lersch liegen bereits zahlreiche Expertisen aus anderen Städten vor, die zur Umbenennung führten. In Köln beispielsweise wurde eine vergleichbare Debatte bereits vor Jahren geführt, die letztlich zur Tilgung des Namens Lersch aus dem Stadtplan führte. Die Herner Politik sollte diesen Präzedenzfällen folgen, um nicht als rückständig wahrgenommen zu werden. Die Herner Bürgerschaft und Wirtschaft beobachtet solche kommunalpolitischen Entwicklungen mit großem Interesse, da sie die Attraktivität und das soziale Klima des Standorts Herne beeinflussen. Es bleibt zu hoffen, dass die Bezirksvertretung den Mut aufbringt, diesen konsequenten Schritt zu gehen und damit ein deutliches Zeichen für eine reflektierte Geschichtspolitik zu setzen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass der Vorschlag von Horst Schröder eine elegante Lösung für ein komplexes Problem bietet. Durch die gleichzeitige Behandlung der Heinrich Lersch Straße und der Belgorodstraße können Synergien genutzt und politische Widerstände abgebaut werden. Die Kosten für die Änderung von Ausweisen und Dokumenten sind für die wenigen Anwohner:innen der Lersch-Straße zumutbar, zumal die Stadt hier finanzielle Unterstützung oder unbürokratische Hilfe leisten könnte. Eine Benennung nach Ursel Müller an der DLRG-Wache wäre ein würdiges Denkmal für eine Frau, die ihr Leben dem Schutz anderer gewidmet hat. Die SN SONNTAGSNACHRICHTEN werden über den weiteren Fortgang des Antrags am 24.08.2025 erneut berichten, wenn die ersten Sitzungstermine nach der Sommerpause anstehen. Die Bürger:innen von Herne sind aufgerufen, sich an diesem Diskurs zu beteiligen, denn Straßennamen sind mehr als nur Wegweiser – sie sind das Gedächtnis unserer Stadt.























