Berlin/Herne. [sn] Die Vision einer urbanen Seilbahn für die Stadt Herne klang für viele Bürger:innen und Planer:innen zunächst nach einem Befreiungsschlag für den lokalen Personennahverkehr. Doch während die Gondeln in der Theorie bereits lautlos über die Stadt schweben, türmen sich in der Realität bürokratische und technische Hürden auf, die das Projekt noch vor dem ersten Spatenstich zum Stillstand bringen könnten. Das zentrale Nadelöhr ist dabei nicht etwa der kommunale Wille, sondern die unerbittliche regulatorische Welt des Schienenverkehrs. Wenn eine Seilbahntrasse die Gleisanlagen der Deutschen Bahn oder anderer Eisenbahninfrastrukturunternehmen kreuzt, betritt der:die Planer:in ein juristisches und sicherheitstechnisches Minenfeld, das vom Eisenbahn-Bundesamt (EBA) mit Argusaugen bewacht wird.
Jede Querung einer Bahnanlage ist ein hochkomplexer Eingriff in ein bestehendes System, das nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) strengsten Sicherheitsnormen unterliegt. Besonders kritisch wird es, wenn es sich um größere Bahnanlagen mit mehreren Gleisen und hochspannungsführenden Oberleitungen handelt. Hier prallen zwei Welten aufeinander: Die Flexibilität der Luftseilbahn und die starre, auf maximale Ausfallsicherheit getrimmte Welt der Schiene. Laut dem Wikipedia-Artikel zum Eisenbahnkreuzungsgesetz (EKrG) müssen Kreuzungen so beschaffen sein, dass sie die Sicherheit des Verkehrs gewährleisten und die zukünftige Entwicklung der Verkehrswege nicht behindern. In der Praxis bedeutet dies für Herne, dass jede Gondel, die über ein Gleis fährt, als potenzielle Gefahrenquelle für den Bahnbetrieb eingestuft wird. Ein technischer Defekt an der Seilbahn, der zu einem Stillstand über den Gleisen führt, ist für das Eisenbahn-Bundesamt ein Horrorszenario.
„Die Anforderungen an die Sicherheit bei einer Gleisquerung sind nicht verhandelbar“, zitiert ein Branchenkenner die gängige Haltung der Behörden. Tatsächlich fordert das EBA für solche Fälle nicht nur einfache Sicherheitsabstände, sondern ein lückenloses Schutzkonzept. Dazu gehören massive Fangbrücken oder engmaschige Stahlschutznetze, die verhindern müssen, dass bei einem Seilbruch oder einem mechanischen Versagen Teile auf die 15.000-Volt-Oberleitung stürzen. Diese Bauwerke sind nicht nur ästhetisch fragwürdig, sondern treiben die Baukosten in Millionenhöhe. Zudem muss ein solches Netz so konstruiert sein, dass es auch bei widrigen Wetterbedingungen, wie sie am 30.12.2025 in Westfalen durchaus vorkommen können, absolut stabil bleibt. Die technische Abgrenzung zwischen dem Blitzschutz der Seilbahn und der Rückstromführung der Eisenbahn ist dabei eine physikalische Meisterleistung, die eine koordinierte Planung zwischen den Ingenieur:innen der Seilbahn und den Expert:innen der DB InfraGO AG erfordert.
Technische und juristische Hürden der Gleisquerung
Die rechtliche Grundlage für dieses komplexe Unterfangen findet sich primär im Eisenbahnkreuzungsgesetz (EKrG) sowie in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO). Gemäß § 18 EBO müssen bauliche Anlagen so instand gehalten werden, dass die Sicherheit des Betriebes der Eisenbahn gewährleistet ist. Für das Projekt in Herne bedeutet dies, dass der Seilbahnbetreiber gegenüber dem Infrastrukturbetreiber der Bahn in eine umfassende Vorleistung und Garantenstellung treten muss. Ein zentrales Problem ist das sogenannte Lichtraumprofil. Die Gondeln müssen einen signifikanten vertikalen Sicherheitsabstand zur Oberleitung wahren, um das Risiko eines Lichtbogenüberschlags unter allen Umständen auszuschließen. Da sich Tragseile je nach Belastung und Temperatur unterschiedlich dehnen, muss die statische Berechnung extreme Pufferzeiten und -räume einplanen. Wer sich für die technischen Details solcher Großprojekte interessiert, findet im Handbuch Seilbahnen bei Amazon vertiefende Informationen zu den erforderlichen Lastannahmen.
Ein weiteres kritisches Element ist das Rettungskonzept. Sollte eine Gondel exakt über dem Gleisfeld zum Stehen kommen und der Notantrieb versagen, beginnt eine logistische Kettenreaktion. Ein Abseilen von Passagier:innen ist lebensgefährlich, solange die Oberleitung unter Spannung steht. Die Rettungskette sieht vor, dass zunächst der Notfallmanager (NfM) der Bahn die Strecke sperren und die Oberleitung abschalten sowie bahnerden muss. Erst wenn diese Bahnerdung physikalisch sichergestellt ist, dürfen Rettungskräfte aktiv werden. Dieser Prozess dauert im günstigsten Fall 45 bis 60 Minuten – eine Zeitspanne, in der der gesamte Zugverkehr auf dieser Achse erliegt. Die juristische Abgrenzung der Verantwortlichkeiten ist hierbei oft Gegenstand langwieriger Verhandlungen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in verschiedenen Urteilen, etwa im Urteil vom 17.11.2020 (Az. VI ZR 569/19), klargestellt, dass die Betriebsgefahr einer Anlage dem:der Betreiber:in zugerechnet wird, was bei einer Seilbahn über Gleisen zu einer enormen Haftungsverdichtung führt.
Die Kosten einer solchen Sperrung sind für ein kommunales Projekt kaum kalkulierbar. In der Rubrik Lokales der SN SONNTAGSNACHRICHTEN wurde bereits mehrfach über die angespannte Haushaltslage diskutiert. Eine einzige Stunde Streckensperrung auf einer Hauptverkehrsader kann durch Verspätungskosten, Entschädigungszahlungen nach den Fahrgastrechten und Umleitungen im Güterverkehr Kosten zwischen 50.000 € und 150.000 € verursachen. Wenn eine Rettungsaktion mehrere Stunden andauert, bewegt sich der Schaden schnell im siebenstelligen Bereich. Diese Summen muss der Seilbahnbetreiber über Versicherungen abdecken, deren Prämien angesichts des hohen Risikoprofils astronomisch ausfallen dürften. Das EBA verlangt zudem oft den Nachweis, dass der Betrieb der Seilbahn die Zugsicherungssysteme wie das European Train Control System (ETCS) oder die Punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) nicht durch elektromagnetische Felder stört. Diese elektromagnetische Verträglichkeit (EMV) nachzuweisen, ist für Seilbahnhersteller eine gewaltige Aufgabe, da die starken Ströme der Bahn auch die empfindliche Sensorik der Seilbahnsteuerung beeinflussen können.
Wirtschaftliche Folgen und das Resümee des Genehmigungsmarathons
Die wirtschaftliche Dimension der Haftung ist der wohl größte Stolperstein. In Kreuzungsvereinbarungen mit der DB InfraGO AG wird in der Regel eine vollständige Haftungsfreistellung der Bahn gefordert. Der Seilbahnbetreiber haftet somit für jeden Cent, den ein Stillstand verursacht – unabhängig vom eigenen Verschulden (Gefährdungshaftung). Für die Stadt Herne oder einen privaten Betreiber stellt dies ein unkalkulierbares finanzielles Risiko dar. Ein Blick in überregionale Medien wie den Spiegel zeigt, dass ähnliche Infrastrukturprojekte in Deutschland oft an genau diesen Detailfragen scheitern. Die technische Abgrenzung zwischen den Systemen erfordert eine so hohe Präzision, dass die Genehmigungsfähigkeit durch das EBA derzeit in weite Ferne rückt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die anstehenden Forderungen und Auflagen des Eisenbahn-Bundesamtes und der DB InfraGO AG stellen Hürden auf, die nach aktuellem Stand kaum zu überspringen sind. Die Kombination aus extremen baulichen Anforderungen (Fangnetze), dem hochkomplexen Rettungskonzept bei 15 kV Spannung und den existenzbedrohenden Haftungsrisiken bei einem Betriebsstillstand macht das Projekt „Herner Seilbahn“ zu einem Wagnis, das genehmigungstechnisch am seidenen Faden hängt. Während die Politik die Mobilitätswende beschwört, zeigt die bürokratische Realität, dass der Schutz des Schienenverkehrs Vorrang vor innovativen Luftverkehrskonzepten hat. Ohne eine massive politische Intervention auf Bundesebene, die die Haftungsregeln für urbane Seilbahnen neu definiert, dürfte die Herner Seilbahn eine schöne Vision bleiben, die an den harten Paragraphen des Eisenbahnrechts zerschellt. Die Kosten für die Wirtschaft bei einer Sperrung der darunterliegenden Gleise wären so immens, dass sie das gesamte Projektbudget binnen weniger Tage aufzehren könnten. Für den Betreiber bedeutet dies eine Durchhaftung, die ohne staatliche Bürgschaften kaum zu leisten ist. Es bleibt abzuwarten, ob die Planer:innen in Herne einen Weg finden, diese regulatorische Festung zu stürmen, oder ob das Projekt letztlich als zu teuer und zu risikoreich in den Schubladen verschwindet.
























