Herne. [sn] Wer Bürger:innenbeteiligung ernst nimmt, darf Beschlüsse nicht wie bewegliche Zielscheiben behandeln. Genau das aber ist beim Dauerstreit um das Hallenbad Eickel passiert: Der Rat hat am 01.07.2025 den Abriss samt Neubau konkret beschlossen – und will nun ein aktuelles Bürgerbegehren für unzulässig erklären, weil die „eigentliche“ Grundsatzentscheidung angeblich schon im März gefallen sei. Juristisch überzeugt das nicht. Maßgeblich ist der Beschluss, der das konkrete Verwaltungshandeln eröffnet. Das war der Juli-Beschluss, wie selbst städtische Darstellungen zum Verfahren nahelegen. So berichteten lokale Medien über die erneute Ratsmehrheit für den Neubau und die parallele Bürgerbegehren-Dynamik am 01.07.2025; seither ist die Debatte um Fristen, Zulässigkeit und die richtige Bezugsentscheidung entbrannt. „Wer im Juli neue Fakten schafft, kann im November nicht so tun, als sei der März die einzige relevante Wegmarke“ – so die naheliegende Lesart des Rechts: Bei Bürgerbegehren startet die Frist gegenüber dem Beschluss, gegen den sich das Begehren tatsächlich richtet. Das ist § 26 Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen (GO NRW): Gegen Beschlüsse ohne Bekanntmachungspflicht läuft eine Drei-Monats-Frist ab dem Sitzungstag; bei Bekanntmachungspflicht gelten sechs Wochen ab Bekanntmachung. Entscheidend ist der aktuelle, einschlägige Ratsbeschluss – nicht eine frühere, politisch ähnlich klingende Willensbekundung. Genau hier knüpfen die verfahrensrechtlichen Einwände an: Der Juli-Beschluss konkretisiert und trägt den Abriss erst in die Verwaltungspraxis; damit löst er eine eigene Frist aus (§ 26 GO NRW). Wer diese Kausalität verwischt, hebelt das Bürgerrecht aus. Das Problem wird plastisch, wenn man den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) in der Ausprägung als Verbot widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“) berücksichtigt:
Eine Behörde darf Bürger:innen nicht in eine Fristfalle laufen lassen, die sie durch eigene Beschlusslage erst geschaffen hat.
Die Verwaltung kann nicht mit dem späteren, konkretisierenden Beschluss die Spielregeln ändern und sich anschließend auf eine bereits verstrichene Frist zur früheren Lage berufen. Das ist rechtsmissbräuchlich. Diese Linie findet Rückhalt in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, die das Verbot widersprüchlichen Verhaltens als Ausprägung des Vertrauensschutzes anerkennt. Wer zusätzlich auf Beratungspflichten schaut, erkennt eine zweite Sollbruchstelle: Nach § 25 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) soll die Behörde erkennbaren Fehladressierungen oder formalen Fehlgriffen entgegenwirken und rechtzeitig auf Hindernisse hinweisen. Geschieht das nicht, wird es schwierig, sich später genau auf diese Fallen zu stützen. All das ist keine Spitzfindigkeit, sondern Ausdruck eines Rechtsstaates, der Bürger:innenbeteiligung nicht mit Formalia aushebelt, sondern sie in geordneten Bahnen ermöglicht.
Fristenlogik, „lex posterior“ und die Frage: Wer ändert hier eigentlich die Spielregeln?
Die Kernfrage lautet: Welcher Beschluss ist „maßgeblich“ für die Frist? Der, der die politische Linie skizziert – oder der, der erstmals echte Folgen setzt (Abriss, Haushaltsmittel, Schließungen, Neubau)? Die Antwort gibt das Gesetz – und die kommunalrechtliche Praxis: Bürger:innen dürfen sich gegen den Beschluss wenden, der sie tatsächlich betrifft. § 26 GO NRW koppelt die Frist präzise an den konkreten Ratsbeschluss. Anders formuliert: Eine „lex posterior“ – ein späterer, inhaltlich weitergehender Beschluss – verdrängt die Anknüpfung an die frühere, bloß grundsätzliche Entscheidung. Damit beginnt die Uhr neu zu laufen, und zwar ab Juli 2025. Dass die Stadt nun auf März verweist, wirkt wie der Versuch, den Kalender selektiv rückwärtszudrehen. Diese Sicht wird nicht dadurch besser, dass man angeblich „immer darauf hingewiesen“ habe, der März sei maßgeblich: Hinweise ersetzen keine Beschlussinhalte. Maßgeblich ist, was beschlossen wurde – nicht, was man retrospektiv dafür hält. Auch der Blick auf Treu und Glauben schärft das Bild: Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens schützt vor genau der Konstellation, in der eine Seite erst eine veränderte Rechtslage schafft und danach Vorteile aus der Verwirrung über den richtigen Angriffspunkt zieht. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Figur wiederholt gestützt; sie dient dem fairen Verfahren und verhindert Formal-Tricks zulasten Beteiligter. In Herne kommt erschwerend hinzu, dass die Verwaltung – soweit ersichtlich – nicht proaktiv über ihre nun behauptete Fristlogik aufgeklärt hat. § 25 VwVfG fordert aber eine verfahrensfreundliche, beratende Haltung, gerade bei offenkundigen Fallstricken.
„Bürgerrechte sind kein Gnadenrecht“,
sagte uns sinngemäß ein Verwaltungsjurist, „sie sind so auszugestalten, dass informierte Bürger:innen sie praktisch nutzen können – nicht erst, nachdem sie eine Kanzlei konsultiert haben“. Wer so argumentiert, landet zwanglos bei der Prognose: Eine pauschale Unzulässigkeitserklärung, die den Juli-Beschluss ignoriert, wird einer gerichtlichen Kontrolle voraussichtlich nicht standhalten. Denn sie verletzt die richtige Fristenanknüpfung, missversteht die Wirkung späterer Ratsbeschlüsse und reibt sich am Grundsatz von Treu und Glauben.
Vertrauen verspielt? Was der Rat jetzt riskieren würde – politisch und rechtlich
Bleibt die politische Dimension. Natürlich darf ein Rat Mehrheiten nutzen, um einen Neubau auf den Weg zu bringen. Aber wer das tut, muss die Partizipationsrechte präzise bedienen – nicht unterlaufen. Eine Unzulässigkeitserklärung, die die Frist künstlich auf einen früheren, weniger konkreten Beschluss verlagert, sieht nach taktischer Verteidigungslinie aus, nicht nach rechtsfester Prüfung. Das beschädigt Vertrauen in Oberbürgermeister, Verwaltungsspitze und neue Ratsmehrheiten – zumal nach jüngsten Wahlverlusten der SPD.
„Kann man diesen Beteuerungen noch trauen?“
Die Gegenfrage lautet: Warum nicht transparent den Juli-Beschluss zur rechtlichen Referenz machen, die Frist daran messen und das Begehren inhaltlich stellen? Wenn man auf der Sachebene überzeugt ist, braucht man die Formalfalle nicht. Wer dagegen jetzt „ins offene Messer“ eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens läuft, riskiert eine schallende Ohrfeige vom Gericht und eine noch lautere von der Öffentlichkeit. Medienberichte dokumentieren, wie die Stadt die Linie „Bürgerbegehren unzulässig“ aktuell durchdekliniert – doch wer sich die einschlägigen Normen ansieht, wird Probleme erkennen. Am Ende könnte der Rechtsstaat sehr unfreundlich zurückgrüßen: mit einer Aufhebung der Unzulässigkeit, Kostenlast und einer politischen Erzählung, die man im Rathaus nicht hören wollte. Bürger:innenbeteiligung ist kein lästiger Betriebsunfall, sondern demokratischer Alltag. Wer sie pro forma wegsperrt, verliert nicht nur vor Gericht, sondern auch die Deutungshoheit im Stadtgespräch.
























