Herne. [sn] Es ist ein unbequemer Zusammenhang: Feinstaub (PM₂,₅/PM₁₀) belastet nicht nur Lunge und Herz, sondern steht auch in Verbindung mit Veränderungen im Gehirn, die typisch für Alzheimer sind. Neue Autopsie-Studien aus den Vereinigten Staaten berichten, dass bereits geringe Mehrbelastungen mit PM₂,₅ im Lebensumfeld mit stärkerer Ablagerung von Amyloid-Plaques und Tau-Protein einhergehen – genau jenen pathologischen Kennzeichen, die Neurolog:innen seit Jahrzehnten mit dem Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit verbinden. Das wirft eine Frage auf, die nicht nur medizinisch, sondern auch verwaltungsrechtlich relevant ist: Reicht diese Datenlage in Zeiten neuer wissenschaftlicher Evidenz aus?
Was die aktuelle Evidenz sagt
In einer großen Autopsie-Kohorte der University of Pennsylvania wurden über 600 Gehirne untersucht. Ergebnis: Für jeden zusätzlichen 1 µg/m³ PM₂,₅ im Jahr vor dem Tod stieg die Wahrscheinlichkeit schwerer Alzheimer-Veränderungen um rund 19 Prozent. In einer Teilgruppe korrelierte höhere Belastung zudem mit messbar schlechteren Gedächtnis- und Alltagsfunktionen. Das passt zu weiteren neuropathologischen Befunden (u. a. Emory/Atlanta), die erhöhte Amyloid-Last bei höherer Feinstaubexposition nachweisen. Zusammengenommen entsteht ein Bild, das den Beitrag der Luftqualität zur Demenzentwicklung deutlich ernster erscheinen lässt, als es viele bislang taten.
Die Alzheimer’s Association berichtete 2024 zusätzlich über eine große Registerstudie, wonach Rauch von Vegetationsbränden das Demenzrisiko besonders stark erhöht – ein Hinweis darauf, dass nicht nur „städtischer“ Verkehr, sondern auch episodische Spitzenbelastungen die Hirngesundheit gefährden. Für die kommunale Prävention heißt das: Nicht nur Jahresmittel im Blick behalten, sondern auch Peaks.
Herne: Von der Messung zur Annahme
In Herne wurde die kontinuierliche PM₁₀-Messstation an der Recklinghauser Straße Anfang 2016 abgebaut, weil die 35-Tage-Grenze der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (39. BImSchV) zuvor drei Jahre hintereinander eingehalten worden war. Seither wird am Standort nur noch NO₂ diskontinuierlich per Passivsammler erhoben; für PM₂,₅ existiert in Herne keine kontinuierliche Stadt-Messung. Die Stadt verweist auf das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV), das die Luftgütedaten landesweit konsolidiert. Formal war der Abbau 2016 rechtlich gedeckt – inhaltlich führt er jedoch zu einer Datenlücke genau bei dem Parameter (PM₂,₅), für den die Demenzforschung die stärksten Risiken beschreibt.
Schon 2015 meldeten lokale Medien zwar rückläufige Überschreitungen bei PM₁₀, zugleich aber wiederholte Spitzen an der Recklinghauser Straße. Ab 2016 fehlt in Herne die eigene kontinuierliche Feinstaub-Zeitreihe, um Trends, Peaks und Mikroklima-Effekte vor Ort valide zu beurteilen – ein Problem für evidenzbasierte Gesundheitspolitik.
Gesundheitsrelevanz: Warum PM₂,₅ anders zu gewichten ist als PM₁₀
PM₁₀-Partikel (≤ 10 µm) gelten als „inhalierbarer Schwebstaub“. PM₂,₅ (≤ 2,5 µm) sind noch kleiner, dringen tiefer in die Lunge ein, passieren alveoläre Barrieren wahrscheinlicher und werden systemisch verteilt. Genau diese Fraktion wird mit vaskulären Schäden, systemischer Entzündung und neurodegenerativen Prozessen in Verbindung gebracht. Meta-Analysen und Reviews zum Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und Demenz stützen die Einordnung zunehmender Alzheimer-Risiken bei langfristiger Feinstaubexposition. Für kommunale Risikobewertungen ist daher PM₂,₅ der entscheidende Marker – nicht allein PM₁₀.
Rechtlicher Rahmen: Grenzwerte, Pflichten, Spielräume
Deutschland setzt die EU-Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG durch die 39. BImSchV um. Für PM₁₀ gilt: Tagesmittel 50 µg/m³, maximal 35 Überschreitungstage pro Kalenderjahr; Jahresmittel 40 µg/m³. Für PM₂,₅ bestehen Ziel- und Grenzwerte mit schrittweiser Verschärfung auf EU-Ebene. 2024 wurde die Richtlinie überarbeitet (EU) 2024/2881 – mit perspektivisch strengeren Standards und klareren Informations-/Alarm-Schwellen. Kommunen sind gehalten, Luftreinhaltepläne zu erstellen bzw. fortzuschreiben, wenn Grenz- oder Zielwerte nicht eingehalten werden oder eine nachhaltige Gefährdung absehbar ist. Dabei zählt nicht nur die formale Einhaltung eines einzelnen Indikators, sondern die bestmögliche Luftqualität im Sinne des Vorsorgeprinzips.
Juristisch ist hervorzuheben: Die 39. BImSchV verlangt nicht die Minimierung von Messaufwand, sondern die Sicherstellung belastbarer Beurteilungsdaten. Werden Messnetze ausgedünnt, ist verwaltungsrechtlich zu prüfen, ob Modellierungen und Hintergrundstationen den lokalen Expositionsgradienten ausreichend erfassen – insbesondere in belasteten Straßenschluchten, an Knotenpunkten und in Wohnlagen vulnerabler Gruppen (Senior:innen, Kinder). Eine pauschale Ableitung „keine Überschreitung = kein Risiko“ ist mit aktueller Evidenz unhaltbar.
Was heißt das für Herne?
Datenbasis aktualisieren: Herne sollte die PM₂,₅-Überwachung – idealerweise kontinuierlich – wieder aufnehmen. Modellierungen des LANUV sind wertvoll, ersetzen aber in Hotspots keine vor-Ort-Messung mit stündlicher/viertelstündlicher Auflösung, um Peaks abzubilden. Ein städtischer Monitoring-Plan, der NO₂, PM₂,₅ und Black Carbon kombiniert, ist Stand der Praxis in vergleichbaren Kommunen.
Gesundheitsschutz priorisieren: Die neue Evidenz (u. a. Penn Medicine; Emory/Neurology) verlagert die Beweislast: Nicht Anwohner:innen müssen gesundheitliche Schäden „nachweisen“, sondern Kommunen sollten präventiv handeln – mit Verkehrs- und Quellenmanagement (Verkehrsfluss, Baustellenstaub, Hausfeuerungen), sozialräumlicher Planung (Schutz von Kitas/Schulen/Senior:innen-Einrichtungen) und transparenten Öffentlichkeitsinformationen.
Planung und Recht fortschreiben: Luftreinhalte- und Aktionspläne sind „lebende“ Dokumente. Seit 2016 hat sich die Studienlage grundlegend verdichtet – insbesondere zur PM₂,₅-Neurotoxikologie. Vor diesem Hintergrund sollte der zuständige Fachdienst prüfen, ob die Fortschreibung/Neuaufstellung geboten ist, auch wenn formale PM₁₀-Grenzwerte aktuell eingehalten werden. Das entspricht dem Vorsorge- und Fürsorgegedanken des Immissionsschutzrechts.
Transparenz herstellen: Die Stadt sollte den Abbau der PM₁₀-Station 2016 samt Entscheidungsgrundlagen (Ausschussvorlagen, Ratsbeschlüsse, LANUV-Stellungnahmen) dokumentieren und online zugänglich machen. Nur so lässt sich fachlich belastbar beurteilen, ob die damalige Entscheidung – im Lichte neuer Erkenntnisse – anzupassen ist. (Historische Presse- und Ratsdebatten zur Recklinghauser Straße belegen die Problemlage, ersetzen aber keine aktuelle fachliche Evaluation.)
Praxistipps für Bürger:innen – ohne Alarmismus
- Innenraumluft sauber halten: In belasteten Straßenlagen können zertifizierte HEPA-Luftreiniger die Innenraumkonzentration senken (keine Wunderwaffe, aber messbarer Beitrag).
- Lüften mit Verstand: Stoßlüften zu Zeiten niedriger Außenbelastung (fern von Hauptverkehr) ist sinnvoller als Dauer-Fensterkippen an stark befahrenen Straßen.
- Ofenanlagen prüfen: Festbrennstofföfen ohne moderne Filter sind relevante Feinstaubquellen. Wartung/Filterung senkt Emissionen deutlich.
- Mobilität anpassen: Kurze Wege zu Fuß/Rad abseits der Hauptachsen – kleine Änderung, großer Effekt auf die persönliche Exposition.