Herne. [sn] Die Idee klang gut, fast visionär: Auf dem zentral gelegenen Europaplatz in Herne-Mitte sollte ein Ort der Begegnung entstehen. Mit Holzterrassen, Blumen, Sitzgelegenheiten – ein Platz für alle. Zwei Monate nach der feierlichen Eröffnung fordert die SPD nun den sofortigen Rückbau. Der Grund: Die Stadtterrasse sei von der Trinker- und Drogenszene vereinnahmt worden, die Sicherheit von Passant:innen sei gefährdet, das Umfeld verwahrlost.
Was als Begegnungsort geplant war, wird zum Problemfall
Am 12. Mai 2025 eröffnete die Stadtverwaltung Herne die neue Stadtterrasse auf dem Europaplatz – mit viel Medienaufmerksamkeit, aber auch mit Zweifeln aus der Bürgerschaft. Diese Sorgen haben sich nun bestätigt: Laut einer Pressemitteilung der SPD-Fraktion sei der Ort nicht mehr das, was er sein sollte. „Die ursprünglich gut gemeinte Idee, einen offenen Begegnungsraum in der Innenstadt zu schaffen, ist leider gescheitert“, erklären die SPD-Politiker:innen Gabriele Przybyl, Theres Boneberger und Melissa Arnold unisono.
Die drei SPD-Politiker:innen sprechen von „lautstarken alkoholisierten Zusammenkünften“, „Müll“ und „herausgerissenen Pflanzen“. Passant:innen berichten von Pöbeleien, einem aggressiven Klima und der Angst, den Platz abends zu überqueren. Besonders alarmierend: Die Stadtterrasse liegt in unmittelbarer Nähe zu einem Kinderspielplatz, einem Kindergarten (einem geplanten weiteren Kindergarten), einer Jugendeinrichtung und dem Aushängeschild der Stadt Herne dem LWL-Museum für Archäologie.
Im Umkreis so vieler sensibler Einrichtungen ein solches Angebot an die Szene zu machen, ist nicht nur fahrlässig – es ist unverantwortlich!
Zeichen der Einsicht – oder Bruch in der Führungsstruktur?
Dass nun ausgerechnet die SPD-Stadtverordneten Gabriele Przybyl und Theres Boneberger sowie die SPD-Bezirksfraktionsvorsitzende Melissa Arnold die Reißleine ziehen und den Rückbau der Stadtterrasse fordern, wirkt auf den ersten Blick wie ein überfälliges Zeichen politischer Einsicht.
Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich auch eine andere Frage: Warum stellen sich drei profilierte SPD-Kommunalpolitiker:innen öffentlich gegen ihren Fraktionsvorsitzenden Udo Sobieski – und letztlich auch gegen ihren eigenen Oberbürgermeister und Verwaltungschef?
Was als Hoffnung auf Korrektur wahrgenommen werden kann, offenbart zugleich ein mögliches Führungsproblem: mangelnde Abstimmung, fehlende strategische Linie, zu viel Nähe zur Verwaltung bei zu wenig Kontrolle. Oder macht man sich plötzlich Gedanken über den Bürgerwillen, den Wähler – oder gar über die eigenen Chancen, nach der Kommunalwahl im Herbst weiterhin im Stadtrat zu sitzen?
Die offene Kritik aus den eigenen Reihen ist ein Warnsignal – intern wie extern. Wer politische Verantwortung übernimmt, darf sich nicht hinter Online-Umfragen oder Projektlogos verstecken. Führung zeigt sich dort, wo Fehler offen benannt und korrigiert werden – und nicht erst, wenn der öffentliche Druck zu groß wird.
Frühe Kritik: Mahnungen aus der Bürgerschaft wurden ignoriert
Bereits im Juli 2023 berichteten die SN SONNTAGSNACHRICHTEN über massive Vorbehalte gegenüber dem Stadtterrassen-Konzept – insbesondere im Stadtteil Eickel. Anwohner:innen machten deutlich, dass die Bevölkerung keine „Feierzonen“ in unmittelbarer Wohnlage wünsche. Ein Senior brachte es auf den Punkt: „Wir sitzen hier nicht in der Düsseldorfer Altstadt am Rhein, sondern innerhalb von Häuserschluchten, wo sich der Schall wunderbar nach oben und in alle Richtungen verteilt!“
Neben der Kritik am Standort und der Lärmbelastung stand auch die finanzielle Dimension im Fokus: „Wie kann man bei leerer Stadtkasse 15.000 € für so etwas ausgeben?“, fragte ein:e Bürger:in im SN-Gespräch.
Zudem wurde auf gescheiterte Projekte in anderen Städten wie Gladbeck verwiesen, wo sich die erhoffte Belebung des öffentlichen Raums nicht einstellte. Stattdessen hätten sich laut damaligen Berichten Jugendliche, vorwiegend mit Migrationshintergrund, die Flächen nach Ladenschluss angeeignet – mit allen bekannten Folgeproblemen.
Auch aus den Reihen der Behindertenverbände kam deutliche Kritik: Die Herner Stadtterrassen seien nicht barrierefrei und damit nicht konform mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) sowie der DIN 18040.
In den sozialen Medien wurde die Maßnahme scharf kommentiert: „Steuergeldverschwendung“, „sieht billig aus“, „15.000 € für ein paar Holzbretter“ – so lauteten nur einige der wiederkehrenden Bewertungen.
Ein häufig formulierter Wunsch: „Sanierung der Toiletten im Eickeler Tierpark und Reparatur der defekten Spielgeräte wären wichtiger gewesen.“ Diesen Einwurf unterstützte die Redaktion der SN SONNTAGSNACHRICHTEN schon damals.
Verwaltung ignoriert Sicherheitsbedenken – Kritik am Beteiligungsverfahren
Der Standort wurde nicht durch die Politik beschlossen, sondern ging aus einer Online-Umfrage hervor: 114 Stimmen für den Europaplatz, 89 für den Friedrich-Ebert-Platz, 75 für den Stadtgarten. Die Stadtverwaltung folgte dem Votum – offenbar ohne belastbare Sicherheitsbewertung.
Kritiker:innen werfen der Verwaltung vor, Warnungen aus der Öffentlichkeit ignoriert zu haben. „Die Realität vor Ort entspricht nicht dem angestrebten Konzept“, heißt es in der SPD-Mitteilung. Politik und Verwaltung – zwei Bereiche, die in Herne beim Projekt Stadtterrasse offenbar einmal mehr bewiesen haben, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderliegen können. All das hätte verhindert werden können – mit mehr Weitsicht, kritischer Reflexion und einem klareren Blick auf die Realität vor Ort. Es braucht mehr als gute Absichten. Es braucht Verantwortung.
Die Szene ist nun präsent – sichtbar, laut, dominant. Der Europaplatz liegt in mehreren definierten Cannabis-Schutzzonen, was ordnungsrechtliche Eingriffe rechtfertigen würde. Doch bislang blieb es bei der Beobachtung. Warum der LWL keinen eigenen Ordnungsdienst einsetzt, um die eigenen (Spiel)Flächen zu sichern, bleibt ein Rätsel.
Die Verwaltung hingegen verweist auf die grundsätzliche Bedeutung der Terrassen. Man sehe sie als Orte der Begegnung, deren Erfolg an die Passantenfrequenz gekoppelt sei. „Nicht unbedingt die Aktionen steigern die Nutzungsintensität, sondern die Lage im städtischen Umfeld“, heißt es in einer Analyse. Die Lage am Europaplatz jedenfalls war völlig fehlplatziert. Statt Offenheit und Begegnung zu fördern, wirkte die Stadtterrasse wie ein Magnet für soziale Konflikte. Die Nähe zu sensiblen Einrichtungen – Kinderspielplatz, Kita, Jugendtreff und Museum – hätte frühzeitig als Ausschlusskriterium erkannt werden müssen.
Kostenfrage: Wie viel Begegnung für wie viel Geld?
Die hölzernen Stadtmöbel kosten rund 7.500 € pro Stück – ohne Bepflanzung. 2023 lag der Preis noch bei etwa 15.000 €. Angesichts knapper Haushaltsmittel stellt sich die Frage: Wie viele Schultoiletten hätte man stattdessen sanieren können?
Wie Tagesschau berichtet, steigen die kommunalen Ausgaben für Sicherheit, Prävention und Reinigung bundesweit. Auch Herne könnte langfristig betroffen sein.
Es war einfach, die Plattform aufzubauen – es wird Jahre dauern, die Szene wieder in den Griff zu bekommen.
Es entsteht der Eindruck, dass in Herne die Akquise von Fördermitteln zunehmend Selbstzweck geworden ist – losgelöst von einem tragfähigen stadtplanerischen Gesamtkonzept. Ob Fahrradstraße, Stadtterrasse oder sogar Seilbahn: Die Projekte wirken oft so, als würden sie vor allem entstehen, weil irgendwo Geld verfügbar ist – nicht weil sie tatsächlich gebraucht würden.
„Fördermittel über alles“
– das könnte man pointiert als Wahlspruch des amtierenden Oberbürgermeisters zur nächsten Kommunalwahl deuten. Doch kommunale Verantwortung beginnt nicht beim Förderbescheid, sondern bei der Frage, ob ein Projekt den Menschen vor Ort nützt – dauerhaft, tragfähig und nachvollziehbar.
Die Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen von Förderprojekten erfordert ein Höchstmaß an Transparenz. Die Beauftragung der Wewole mit dem Bau der Stadtterrassen wirft daher legitime Fragen auf, die für die Öffentlichkeit von Interesse sind: Nach welchen Kriterien wurde der Auftrag vergeben? Lagen alternative Angebote vor und wie wurden diese im Vergleich bewertet? Eine klare Kommunikation seitens der Stadt, die solche Entscheidungen für die Bürger nachvollziehbar macht, ist unerlässlich. Denn wo Fördermittel zur Währung politischen Handelns werden, fehlt es oft an öffentlicher Kontrolle, Ergebnisbewertung und nachhaltigem Nutzen. Bürger:innen haben ein Recht darauf, zu wissen, wohin ihr Geld fließt – und warum.