Altmark/Gladbeck/Herne/Münster. [sn] Milchpumpen für junge Mütter, Inhalatoren für Asthmatiker oder Insulin-Pens für Diabetiker – sie gehören zu jenen unscheinbaren Helfern, die für viele Menschen unverzichtbar sind. Doch ab dem 1. Juli 2025 droht Tausenden Versicherten der IKK Classic eine bittere Überraschung: Zahlreiche Apotheken in Westfalen-Lippe werden diese Hilfsmittel nicht mehr ausgeben – aus rein wirtschaftlichen Gründen.
Wenn Sparwahn wichtiger ist als Gesundheit
Die Krankenkasse IKK Classic hat den bestehenden Versorgungsvertrag mit den Apotheken zum 30. Juni 2025 einseitig aufgekündigt. Ein neuer Vertrag kam nicht zustande, weil das Angebot der Kasse nach Angaben des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (AVWL) schlichtweg nicht kostendeckend sei. Die geforderten Preise lägen weit unter dem, was für eine fachgerechte Versorgung notwendig sei. „Entweder wir Apotheken zahlen drauf oder die Patienten müssen selbst zuzahlen. Beides ist unzumutbar“, warnt Marlene Kissel-Lux, Vorsitzende der AVWL-Bezirksgruppe Herne.
Die Liste betroffener Hilfsmittel ist lang: Milchpumpen, Inhalatoren, Insulin-Pens, Pen-Nadeln, Augenpflaster und weitere Produkte, die in akuten Situationen oft dringend benötigt werden. Wie Tagesschau berichtet, häufen sich bundesweit die Fälle, in denen Krankenkassen versuchen, durch sogenannte Ausschreibungen Preise zu drücken – mit gravierenden Folgen für Versicherte und Versorger.
Gesundheitssystem aus dem Gleichgewicht
Der AVWL kritisiert nicht nur die Dumpingpreise, sondern auch die Art der Verhandlungen. „Die Selbstverwaltung funktioniert nicht mehr. Die Kassen diktieren ihre Bedingungen und verweigern faire Gespräche“, erklärt AVWL-Vorstandsvorsitzender Thomas Rochell. Das führe nicht nur zu einer schlechteren Versorgung, sondern beschleunige auch das Apothekensterben – gerade im ländlichen Raum.
Die Auswirkungen auf die Patienten können dramatisch sein: Asthmatiker, die am Wochenende kein Inhalationsgerät erhalten, landen womöglich in der Notaufnahme. Stillende Mütter ohne Milchpumpe riskieren eine Brustentzündung. Die vermeintliche Einsparung werde so schnell zum Bumerang mit höheren Folgekosten für das Gesundheitssystem.
Besonders problematisch: Für viele der betroffenen Patienten gibt es keine kostengünstigen Alternativen. Die medizinischen Hilfsmittel dürfen nur über Apotheken abgegeben werden, der Gang zur Online-Bestellung ist – anders als bei rezeptfreien Medikamenten – gesetzlich eingeschränkt. Selbstverständlich sei es der Anspruch der Apotheken, wohnortnah und schnell zu helfen – gerade in Notfällen, betont Kissel-Lux.
Auf Wikipedia findet sich ein Überblick über die gesetzlich geregelte Hilfsmittelversorgung, die explizit eine zumutbare und wohnortnahe Bereitstellung verlangt – auch ohne Mehrkosten für Patienten.
„Wir Apotheker wollen helfen. Aber wenn wir wirtschaftlich gezwungen werden, jede Abgabe draufzuzahlen, gefährden wir unsere Betriebe – und damit die Versorgung insgesamt“, so Kissel-Lux weiter. Deshalb rufe man die Versicherten auf, ihre Krankenkasse direkt zu kontaktieren und Druck auszuüben.
Ein Sprecher der IKK Classic war auf Anfrage der SN SONNTAGSNACHRICHTEN zunächst nicht erreichbar. Der Apothekerverband stellt jedoch klar: Die Kasse habe sich bei den Verhandlungen stur gezeigt – Verhandlungen über die Preisgestaltung seien ausdrücklich abgelehnt worden. Es sei eine „Friss-oder-stirb“-Mentalität, die zunehmend Einzug in die Gesundheitspolitik halte.
Dass diese Entwicklung kein Einzelfall ist, zeigen frühere Beispiele: Schon 2022 hatte die AOK NordWest einen Vertrag über Inkontinenzhilfen abgeschlossen, der pro Patient und Monat nur 11,86 EUR vorsah – ein Betrag, der nachweislich nicht einmal den Bedarf eines Kleinkindes deckt. Ein tragischer Beleg dafür, dass wirtschaftliche Planung längst die medizinische Fürsorge überholt hat.
Leitsatz: Krankenkassen sind gesetzlich verpflichtet, eine wirtschaftliche, zweckmäßige und mehrkostenfreie Versorgung mit Hilfsmitteln sicherzustellen (§ 33 SGB V).
Um ihrer Kritik Ausdruck zu verleihen, hat der AVWL eine öffentliche Informationskampagne gestartet. Der Verband informiert über seine Webseite www.apothekerverband.de umfassend über die Situation und empfiehlt Versicherten der IKK Classic, sich mit einer formellen Beschwerde an die Krankenkasse zu wenden.
Auch im Bundestag regt sich laut Spiegel wachsender Unmut über die zunehmende Ökonomisierung der Patientenversorgung. Immer wieder werden Stimmen laut, die eine gesetzliche Reform der Hilfsmittelverträge fordern – mit klaren Qualitätsvorgaben und Verhandlungspflichten für Krankenkassen.
Für viele Apotheken steht inzwischen mehr auf dem Spiel als einzelne Verträge. Es geht um das Grundprinzip eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems. „Wenn der Patient nur noch als Kostenstelle behandelt wird, ist das System krank“, sagt Rochell. Die Politik müsse handeln – bevor nicht nur Milchpumpen, sondern auch wohnortnahe Apotheken verschwinden.
Im Onlinehandel gibt es mittlerweile zwar eine Vielzahl an medizinischen Produkten – darunter auch Inhalatoren wie der Philips InnoSpire Elegance – doch die Versorgungspflicht liegt klar bei den Kassen. Sie können sich nicht durch Dumpingpreise und verweigerte Verträge aus der Verantwortung stehlen.
Die SN SONNTAGSNACHRICHTEN bleiben an dem Thema dran und berichten, ob die IKK Classic auf die Warnungen reagiert – oder ob tausende Patienten künftig ihre Gesundheit aus eigener Tasche sichern müssen.