Herne. [sn] Interne Unterlagen der Stadt Herne, die nur einem verschwiegenheitspflichtigen Personenkreis im nichtöffentlichen Teil des Ausschusses für Stadtentwicklung und in Bezirksvertretungen vorgelegt wurden, sind an die Öffentlichkeit gelangt. Darunter befindet sich eine Liste mit 137 sogenannten „Problemimmobilien“ – also eine Art Negativkatalog mit Adressen, Bewertungen und verwaltungsinternen Scores. Die Unterlage war ausschließlich als Arbeitspapier zur internen Vorbereitung gedacht. Die Veröffentlichung solcher Daten ohne Genehmigung stellt jedoch möglicherweise eine Straftat dar.
„Wenn ein vertrauliches Arbeitspapier ohne Erlaubnis weitergegeben wird, kann das strafbar sein“, erklärt der Fachanwalt für Strafrecht Maximilian Zarembski.
Die juristische Bewertung stützt sich auf § 353b Strafgesetzbuch (StGB) – den Verrat von Dienstgeheimnissen.
Laut Gesetz macht sich strafbar, wer als Amtsträger oder Mandatsträger ein Geheimnis verrät, das ihm dienstlich anvertraut wurde und dessen Weitergabe wichtige öffentliche Interessen gefährdet. Das kann mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe geahndet werden. Der Kreis der potenziell Verantwortlichen ist groß: Neben Verwaltungsbeschäftigten zählen auch Rats- und Ausschussmitglieder dazu.
Im Fall der Herner Liste spricht vieles dafür, dass ein solcher Geheimnisverrat vorliegt. Die Liste wurde in nichtöffentlicher Sitzung vorgestellt und enthält sensible Angaben zu Eigentumsverhältnissen, baulichen Mängeln und sozialen Problemen. Die unautorisierte Weitergabe an Externe ist klar unzulässig. Der Pressesprecher der Stadt Herne Daniel Mühlenfeld bestätigte gegenüber den SN SONNTAGSNACHRICHTEN: „Bei der angefragten Unterlage handelt es sich um ein internes Arbeitspapier, das lediglich im nicht öffentlichen Teil der Sitzungen zu Protokoll gegeben wurde.“
Bewertungssystem und Datenlage
Laut interner Verwaltungsunterlagen, die der Redaktion vorliegen, basiert die Erfassung von Problemimmobilien in Herne auf einem komplexen Bewertungsverfahren. Ausgangspunkt sind Hinweise aus der Bevölkerung, politische Anfragen, Daten aus Fachbereichen wie Bauaufsicht und Wohnungsaufsicht sowie digitale Erfassungen im System LeAn. Die eigentliche Bewertung erfolgt mithilfe einer Matrix, in der Kriterien wie Beschwerdelage, baulicher Zustand, städtebauliche Sichtbarkeit und Entwicklungspotenzial mit Punktwerten (0 bis 3) gewichtet werden. Ab einem Score von 50 gilt eine Immobilie als Problemimmobilie, ab 25 als Risikoimmobilie.
Besonders auffällig ist die hohe Zahl betroffener Objekte im Stadtbezirk Wanne (23 Problemimmobilien, 34 Risikoimmobilien). Eickel kommt auf insgesamt 28 Immobilien, davon 5 als Problemfall klassifiziert. Insgesamt verzeichnet die Datenbank 137 auffällige Objekte bei einer Gesamtbasis von 277 untersuchten Immobilien. Auffällig ist auch, dass unter den gelisteten Objekten keine Immobilie im Besitz der hiesigen Wohnungsbaugenossenschaften aufgeführt ist – trotz deren teils umfangreicher Bestände in strukturschwachen Quartieren.
Haftung und Datenschutz: Eine tickende Zeitbombe?
Neben möglichen strafrechtlichen Konsequenzen für die Amtsträger droht der Kommune eine zivilrechtliche Haftung. Eigentümer, deren Immobilien auf der Liste stehen, haben möglicherweise Anspruch auf Schadensersatz – insbesondere dann, wenn ihnen durch die Veröffentlichung ein Vermögensschaden entstanden ist.
Die Redaktion der SN SONNTAGSNACHRICHTEN hat mit zahlreichen betroffenen Immobilieneigentümern gesprochen. Viele von ihnen prüfen derzeit rechtliche Schritte gegen die Stadt Herne – unter anderem wegen möglicher Amtshaftungsansprüche, Datenschutzverletzungen und Rufschädigung. Mehrere Eigentümer erwägen, sich für eine Klage zusammenzuschließen. Die Erfolgsaussichten sollen gut sein.
Angesichts der Zahl betroffener Objekte im dreistelligen Bereich könnte der potenzielle Vermögensschaden schnell in den zweistelligen Millionenbereich steigen. Allein die Kosten für anwaltliche Beratung, Klageverfahren und mögliche Vergleichszahlungen könnten die Stadt Herne millionenschwer belasten – selbst dann, wenn einzelne Ansprüche gerichtlich scheitern sollten.
Sollte sich der oder die Verantwortliche für den Geheimnisverrat identifizieren lassen, könnte die Stadt Herne versuchen, Regressansprüche geltend zu machen – etwa für die Kosten der Rechtsverteidigung, etwaiger Schadensersatzzahlungen und interner Aufarbeitungsmaßnahmen. Zwar dürfte der oder die Betroffene kaum mit voller Absicht gehandelt haben; doch Unwissenheit schützt im öffentlichen Dienst nicht vor Verantwortung. Gerade bei der Weitergabe vertraulicher Unterlagen wird regelmäßig vorausgesetzt, dass Mandatsträger und Amtspersonen die Reichweite ihres Handelns kennen.
Grundlage ist die Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Wenn ein städtischer Mitarbeiter oder Mandatsträger ein Dienstgeheimnis verrät und dadurch ein Schaden entsteht, haftet die Kommune. Denkbar sind u. a. Wertverluste von Immobilien, gescheiterte Verkaufsgespräche oder Finanzierungsschwierigkeiten. Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht könnte verletzt worden sein.
Betroffenen rät Rechtsanwalt Maximilian Zarembski, rechtlichen Beistand zu suchen und ihre Ansprüche dokumentiert geltend zu machen. Das betrifft auch datenschutzrechtliche Aspekte: Die Offenlegung personenbezogener Informationen ohne Rechtsgrundlage kann ein gravierender Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sein.
Laut Präsentation der Stadt Herne existiert seit 2023 ein Ratsbeschluss (Vorlage 2023/1237), der die Erarbeitung eines systematischen Erfassungs- und Handlungsmodells für Problemimmobilien vorsieht. Die Federführung liegt bei der Stabsstelle Problemimmobilien im Dezernat IV. Beteiligt sind unter anderem Feuerwehr, Stadtplanung, Umweltamt, Wohnungsaufsicht, Bauaufsicht, Integration, Polizei, Herne Business und sogar die Stadtwerke.
Die Stadt betont, dass die Datenlage intersektoral, objektiv und durch ein Scoring-System abgesichert sei. Dennoch bleibt rechtlich fragwürdig, ob eine solche kommunale Eigeninitiative (ohne rechtliche Grundlage) ausreicht, um personenbezogene Daten über Mängel und Bewohnerverhalten zu verarbeiten und womöglich zu veröffentlichen.
Auf Nachfrage der SN SONNTAGSNACHRICHTEN, ob die Stadtverwaltung Strafanzeige oder Strafantrag gestellt hat liegt bislang keine Antwort vor. Auf die Frage, wer an den betreffenden Sitzungen teilgenommen habe und wer als das „schwarze Schaf“ zu betrachten sei, teilte die Stadt mit, dass die Namen der anwesenden Personen im Ratsinformationssystem öffentlich einsehbar seien. Zudem sei mittlerweile auch die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen eingeschaltet worden. Man warte derzeit auf deren Rückmeldung, um das weitere Vorgehen zu klären.
Offenbar ist Datenschutz in der Stadtverwaltung sowie im Rat der Stadt weiterhin ein Thema, das nicht in seiner vollen Tragweite verstanden oder ausreichend geschützt wird. Jüngstes Beispiel dafür ist ein Eigenbetrieb, der mit einer unzulässigen Kameraüberwachung im Gysenberg negativ auffiel.
Was bleibt: Die Verantwortung für den Schutz vertraulicher Daten liegt bei denjenigen, denen sie anvertraut wurden. Wenn interne Verwaltungsunterlagen in der Öffentlichkeit landen, ist das kein Kavaliersdelikt, sondern kann erhebliche Folgen für alle Beteiligten haben. Der Eindruck drängt sich auf, dass der Oberbürgermeister die Abläufe in seiner Verwaltung und im Rat/Bezirksvertretung erneut nicht unter Kontrolle hat.